Rousseau's Bekenntnisse
sie mehr als den Tod, mehr als das Verbrechen, mehr als alles auf der Welt. Ich hätte versinken, hätte mich umbringen mögen; das unbesiegliche Schamgefühl überwand alles; das Schamgefühl allein verlieh mir Frechheit, und je schuldiger ich wurde, desto kecker machte mich die Angst, meine Schuld eingestehen zu müssen. Mich erfüllte nur der grausenhafte Gedanke, überführt und in meinem Beisein öffentlich als Dieb, Lügner und Verleumder erklärt zu werden. Eine vollkommene Verwirrung raubte mir jedes andere Gefühl. Wenn man mich hätte zur Besinnung kommen lassen, würde ich unfehlbar alles bekannt haben. Hätte mich Herr de la Rocca bei Seite genommen, hätte er zu mir gesagt: »Richte dieses arme Mädchen nicht zu Grunde; gestehe es mir, wenn du schuldig bist,« würde ich mich ihm sofort zu Füßen geworfen haben, davon bin ich vollkommen überzeugt. Aber man suchte mich nur einzuschüchtern, während man mir hätte Muth einflößen sollen. Auch auf mein Alter muß man billigerweise Rücksicht nehmen; ich war kaum aus der Kindheit herausgetreten, oder ich stand vielmehr noch in ihr. In der Jugend sind die wahren Schlechtigkeiten noch strafbarer als im reifen Alter; was aber aus der Schwäche hervorgeht, ist es dafür weit weniger, und mein Fehler war im Grunde nichts anderes. Auch quält mich die Erinnerung daran weniger wegen des Bösen an sich selbst, als wegen der Folgen, die sich daran knüpfen. Für mich hat es sogar das Gute gehabt, mich für meine ganze übrige Lebenszeit vor jeder an das Verbrecherische streifenden Handlung zu bewahren. Dies habe ich dem furchtbaren Eindrucke zu verdanken, der mir von der einzigen Schlechtigkeit geblieben ist, welche ich je begangen habe; und ich glaube zu fühlen, daß mein Abscheu vor Lügen seine Quelle zum großen Theile in der Reue darüber hat, daß ich eine so schändliche habe aussprechen können. Wenn dieselbe ein Verbrechen ist, welches, wie ich zu hoffen wage, gesühnt werden kann, so muß es durch so viele Unglücksfälle, welche gegen das Ende meines Lebens auf mich eingestürmt sind, durch vierzig Jahre der Redlichkeit und Rechtschaffenheit in schwierigen Verhältnissen gesühnt sein. Die arme Marion findet so viele Rächer in dieser Welt, daß, wie groß auch die ihr von mir zugefügte Kränkung gewesen sein mag, ich nur geringe Furcht hege, mit ihr beschwert in die Ewigkeit hinüberzugehen. Das hatte ich über diesen Gegenstand zu sagen. Möge man mir erlauben, nie wieder darauf zurückzukommen.
Drittes Buch.
1728 – 1731
Aus dem Hause der Frau von Bercellis ungefähr in derselben Lage geschieden, in der ich in dasselbe eingetreten war, kehrte ich zu meiner früheren Wirthin zurück und blieb bei ihr fünf oder sechs Wochen, während welcher sich meine Natur in Folge meiner Gesundheit, meiner Jugend und meiner Unthätigkeit oft recht lästig äußerte. Ich war unruhig, zerstreut, träumerisch; ich weinte, ich seufzte, ich sehnte mich nach einem Glücke, von dem ich keine Vorstellung hatte und dessen Entbehrung sich mir doch fühlbar machte. Dieser Zustand läßt sich nicht beschreiben, und sogar nur wenige Menschen können sich einen Begriff von ihm machen, weil die meisten dieser so quälenden und doch zugleich so köstlichen Lebensfülle, welche im Rausche des Verlangens einen Vorgeschmack des Genusses gewährt, schon zuvorgekommen sind. Mein erhitztes Blut erfüllte mir das Gehirn unaufhörlich mit Mädchen und Frauen, aber da ich keine Ahnung hatte, was ich in Wahrheit mit ihnen anfangen sollte, benutzte ich sie in der Einbildung seltsamerweise nach meinem alten Geschmacke, ohne zu wissen, was ich weiter mit ihnen anfangen sollte; und diese Ideen hielten meine Sinne in einer sehr lästigen Thätigkeit. Glücklicherweise unterrichteten sie mich nicht darin, wie ich mir vor ihr Ruhe verschaffen konnte. Ich würde mein Leben dafür hingegeben haben, auf eine Viertelstunde ein Fräulein Goton wiederzufinden. Allein es war nicht mehr die Zeit, wo die Spiele der Kindheit wie von selbst darauf hinausliefen. Die Scham, die Begleiterin des Bewußtseins vom Bösen, hatte sich mit den Jahren eingefunden; sie hatte meine Schüchternheit bis zur Unüberwindlichkeit gesteigert, und nie habe ich, weder damals noch später, in mir den Muth gefühlt, einen unzüchtigen Antrag zu machen, wenn die, welcher ich ihn anzusinnen wagte, mich nicht gewissermaßen durch ihr Entgegenkommen dazu gezwungen hätte, sogar wenn ich wußte, daß sie nicht bedenklich war,
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