Rubinrot
abgewinnen kannst«, sagte Mr de Villiers.
Mum wischte sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln. »Tut mir leid. Es kam einfach so über mich. Eigentlich würde ich lieber weinen, ehrlich.«
Ich begriff, dass ich mit meiner Frage nach der Natur des Geheimnisses nicht weiterkommen würde.
»Was ist an diesem Graf denn so gefährlich, dass ich ihn nicht kennenlernen soll?«, fragte ich stattdessen.
Mum schüttelte nur den Kopf, plötzlich wieder todernst. Ich machte mir allmählich Sorgen um sie. Diese Stimmungsschwankungen sahen ihr so überhaupt nicht ähnlich.
»Gar nichts«, antwortete Dr. White an ihrer Stelle. »Deine Mutter furchtet nur, du könntest mit geistigem Gedankengut in Berührung kommen, das ihren eigenen Auffassungen widerspricht. Allerdings hat sie in diesen Mauern überhaupt nichts zu entscheiden.«
»Geistiges Gedankengut«, wiederholte meine Mutter und diesmal war es ihre Stimme, die vor Spott triefte. »Ist das nicht ein bisschen doppelt gemoppelt?«
»Wie dem auch sei: Überlassen wir es doch einfach Gwendolyn zu entscheiden, ob sie den Grafen treffen will oder nicht.«
»Nur zu einem Gespräch? In der Vergangenheit?« Ich sah fragend von Mr de Villiers zu Mr George und wieder zurück. »Kann
er
mir die Frage nach dem Geheimnis beantworten?«
»Wenn er will«, sagte Mr George. »Du wirst ihn im Jahr 1782 treffen. Da war der Graf schon ein sehr alter Mann. Und praktischerweise noch einmal zu Besuch hier in London. Auf einer streng geheimen Mission, von der die Geschichtsschreiber und seine Biografen nichts wissen. Er hat hier in diesem Haus übernachtet. Daher wird es ganz einfach sein, das Gespräch zwischen euch zu arrangieren. Gideon wird dich selbstverständlich begleiten.«
Gideon murmelte etwas Undeutliches vor sich hin, in dem die Worte »Idioten« und »Babysitter« vorkamen.
Idiotenbabysitter?
Wie ich diesen Typ verabscheute.
»Mum?«
»Sag Nein, Liebling.«
»Aber warum?«
»Du bist noch nicht so weit.«
»Wofür bin ich noch nicht so weit? Warum soll ich diesen Grafen nicht treffen? Was ist an ihm so gefährlich? Sag es mir doch, Mum.«
»Ja, sag es ihr doch, Grace«, sagte Mr de Villiers. »Sie hasst diese Geheimniskrämerei. Von der eigenen Mutter kränkt einen das ganz besonders, denke ich mal.«
Mum schwieg.
»Du siehst, es ist schwierig, uns wirklich nützliche Informationen zu entlocken«, sagte Mr de Villiers. Seine Bernsteinaugen sahen mich ernst an.
Meine Mum schwieg noch immer.
Am liebsten hätte ich sie geschüttelt. Falk de Villiers hatte recht: Mit diesen blöden Andeutungen war mir kein bisschen geholfen.
»Dann werde ich es eben selbst herausfinden«, sagte ich. »Ich will ihn kennenlernen.« Ich weiß nicht, was plötzlich über mich gekommen war, aber mit einem Mal fühlte ich mich nicht mehr wie eine Fünfjährige, die am liebsten nach Hause rennen wollte, um sich unter ihrem Bett zu verstecken.
Gideon stöhnte.
»Grace, du hast es gehört«, sagte Mr de Villiers. »Ich würde vorschlagen, du lässt dich jetzt nach Mayfair fahren und nimmst eine Beruhigungstablette. Wir bringen Gwendolyn nach Hause, wenn wir mit ihr . . . fertig sind.«
»Ich lasse sie nicht allein«, flüsterte Mum.
»Caroline und Nick kommen bald aus der Schule, Mum. Du kannst ruhig gehen. Ich kann schon auf mich aufpassen.«
»Kannst du nicht«, flüsterte Mum.
»Ich begleite dich, Grace«, sagte Lady Arista mit überraschend weicher Stimme. »Ich war zwei Tage ohne Unterbrechung hier und mein Kopf schmerzt. Die Dinge haben eine wirklich unvorhergesehene Wendung genommen. Aber nun . . . liegt es nicht mehr in unserer Hand.« »Sehr weise«, sagte Dr. White.
Mum sah aus, als würde sie jeden Augenblick in Tränen ausbrechen. »Also gut«, sagte sie. »Ich werde gehen. Ich vertraue darauf, dass alles getan wird, damit Gwendolyn nichts zustößt.«
»Und dass sie morgen pünktlich in der Schule erscheinen kann«, sagte Lady Arista. »Sie sollte nicht allzu viel versäumen. Sie ist nicht wie Charlotte.«
Ich schaute sie verblüfft an. An die Schule hatte ich überhaupt nicht mehr gedacht.
»Wo sind mein Hut und mein Mantel?«, fragte Lady Arista. Bei den Männern im Raum gab es eine Art kollektives Aufatmen. Man konnte es nicht hören, aber sehen.
»Mrs Jenkins wird sich um alles kümmern, Lady Arista«, sagte Mr de Villiers.
»Komm, mein Kind«, sagte Lady Arista zu Mum.
Mum zögerte.
»Grace.« Falk de Villiers nahm ihre Hand und führte sie an seine Lippen. »Es
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