Ruby und Niall
dachte Ruby,
sie kann es nicht lassen.
Sie rauschte an ihrer Schwester vorbei aus der Wohnung, schlug die Tür ins Schloss und rannte die Treppen nach unten, bis sie auf der Straße stand. In ihrer Wut merkte sie nicht, wie kalt es war, sie stapfte ein paar Mal die Straße hoch und runter, bis sie sich wieder im Griff hatte und ruhig in die Wohnung zurückkehren konnte. Helen empfing sie in der offenen Wohnungstür.
"Ich mache das nicht für mich, Ruby", flüsterte sie, "ich mache das für Alfie."
Ruby flüsterte zurück: "Wie willst du sicher sein, dass dich dein neuer Boss nicht auch nur in die Kiste kriegen will?"
Sie wäre besser stumm geblieben, aber sie hatte kein schlechtes Gewissen, als sie Helens schockiertes Gesicht sah.
"Ich weiß schon lange von der Sache", fügte sie hinzu, "wir sind beide keine Engel, Schwesterherz."
Ruby hatte von einem gemeinsamen Freund, der ihr irgendwann zufällig über den Weg gelaufen war, erfahren, in welches Chaos ihre ältere Schwester gestürzt war. Helen war an einen Mann geraten, der ihr einen guten Job in einem seiner Restaurants angeboten hatte, aber bereits am ersten Tag hatte sich herausgestellt, dass der Job darin bestand, in einer Nachtbar sehr leicht bekleidet herumzulaufen und Tabletts mit Getränken zu tragen. Ob Helen über beide Ohren in den Kerl verliebt gewesen war und es deshalb so lange mitgemacht hatte, konnte niemand sagen, Tatsache war aber, dass der freundliche Barbesitzer ihre Mietschulden und offene Rechnungen bezahlt und ihr ein gutes Gehalt gezahlt hatte. Dafür hatte Helen mehr getan, als nur Tabletts herumzutragen. Das und noch ein wenig mehr Details hatte Ruby von dem New Jersey-Trailerpark-Ex-Freund erfahren, der es mit gehässiger Genugtuung weitergegeben hatte. Ruby hatte ihm das Versprechen abgerungen, es nicht im ganzen Trailerpark herumzuerzählen. Daran hatte er sich offensichtlich gehalten, denn die ganze Familie hatte die Lüge "ich bin Geschäftsführerin eines Restaurants" geglaubt.
"Er ist Geschäftsmann", sagte Helen, nachdem sie sich gesammelt hatte, "er arbeitet bis in die Nacht, er leitet die Kurse für Manager, reist auf Kongresse, um neue Kunden zu werben. Ich organisiere seine Kongresstermine und muss seine Kundendatei in Ordnung halten. Er ist ein großartiger Boss, er würde seine Position niemals ausnutzen." Sie ereiferte sich, ihren Boss ins rechte Licht zu rücken, um nicht darüber nachdenken zu müssen, woher Ruby von der Rotlichtgeschichte wusste.
"Klingt, als hättest du das große Los gezogen."
"Mir ist das nicht in den Schoß gefallen, ich arbeite verdammt hart dafür."
Sie sahen sich an, umarmten sich spontan und hielten sich eine Weile fest, bis sie hilflos zu kichern begannen. Ruby wusste nicht, ob sie weinen oder lachen sollte, und so tat sie beides gleichzeitig.
"Wir vergessen einfach den alten Kram und fangen von vorn an. Alfie ist glücklich bei dir, du bist die beste Mutter der Welt und das ist die Hauptsache."
"Das wird bestimmt nicht einfach werden." Helen wischte Ruby mit der Fingerspitze eine Träne aus dem Gesicht und fügte hinzu: "Du solltest ihn öfter besuchen kommen. Und du bleibst in Boston. Du wohnst hier, bis du was Eigenes findest. Du kümmerst dich um deine Wäsche, um einen Job, du hilfst im Haushalt."
"Wir werden uns täglich in den Haaren liegen", meinte Ruby, "du weißt nicht, worauf du dich einlässt."
"Ich hasse dich", erwiderte Helen, "und ich liebe dich, kleine Schwester."
Nachdem das erwartete Gemetzel zwischen den Schwestern ausgeblieben war, wagten sich Niall und Alfie wieder aus dem Zimmer und waren erstaunt und beeindruckt, dass Ruby und Helen sich in den Armen lagen.
"Wir haben uns ausgesprochen", sagte Ruby, wischte sich die Augen, ohne ihr Make-up zu verschmieren, "aber mehr dazu später. Jetzt müssen wir uns erst um ein paar Dinge kümmern."
Ruby ließ ihre Tasche in der Wohnung, Niall nahm seine Sachen und verabschiedete sich. Er war nicht sicher, ob er Alfie und Helen wiedersehen würde. Ganz zu schweigen von Ruby.
"Wie ist es gelaufen?", fragte er und Ruby versuchte nicht zu optimistisch zu klingen. Sie wusste einfach, was alles noch schief gehen konnte, egal, wie viel Mühe sie sich gaben.
"Gut für den Anfang", sagte sie, "belassen wir es dabei."
In einem Café trank Ruby einen Kaffee, während Niall mit ihrem Handy ein Telefonat führte. Er war sehr nervös und so konzentriert auf das Gespräch, dass er ihre neugierigen Blicke nicht bemerkte. Sie verstand kein Wort
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