Ruchlos
Strähne ihres glänzenden blonden Haares fiel ihr in die Stirn, die Wangen glühten. Ich kann Martin verstehen, dachte ich kurz. Die junge Volontärin wirkte so kindlich, so unschuldig.
»Aber ohne Gläser«, monierte ich und brachte zwei Sektflöten zum Vorschein.
Andy hob die linke Hand mit seinem Wasserglas.
»Pass auf, dass dir keine Krankenschwester zu nahekommt. Die wird wissen, dass deine Fahne nicht von Medikamenten stammt.«
»Aber wenn mir eine Krankenschwester so nah kommt, ist sie doch schon meinem Charme erlegen.« Er zwinkerte und hielt mir das Glas hin.
Ich war froh, ihn so gut gelaunt zu sehen und trank einen winzigen Schluck, reichte meinen Kollegen die anderen Gläser. Martin begann erneut mit dem anscheinend gerade abgebrochenen Bericht über unseren gestrigen Nachmittag in der Chefredaktion. Andreas fragte an etlichen Stellen nach und ich schaffte es nach einer Stunde, mich wieder zu verabschieden, ohne dass jemand etwas von meiner Anspannung gemerkt hatte. Lediglich als Andy sagte, er habe am Vormittag angerufen, um mich zu bitten, ihm ein Duschtuch mitzubringen, aber ich sei nicht da gewesen, geriet ich ein wenig ins Stottern.
Als ich wieder auf dem Flur stand, schloss ich kurz die Augen. Eine Krankenschwester, die gerade vorbeikam, fragte, ob mir etwas fehle. Ich versicherte, dass alles in Ordnung sei, und bat sie, bis die Polizei wieder einen Posten vor Andreas’ Zimmertür eingesetzt hatte, ein Auge auf Besucher meines Freundes zu haben.
Die junge Frau nickte eifrig.
»Das kann ich tun. Ist ja richtig aufregend.«
Ich dachte, dass der Drachen, der Clausnitzer und mich am Donnerstag von Andys Bett verscheucht hatte, bestimmt effektiver wäre, lächelte sie aber dennoch bestätigend an. »Ja, da haben Sie recht. Also, wenn Ihnen irgendwas nicht geheuer vorkommt, schlagen Sie Alarm, bitte.«
Sie versprach es, und ich fühlte mich ein bisschen sicherer, als ich den Lift in den vierten Stock nahm, um Marianne Gärtner einen Besuch abzustatten. Die Station wirkte stiller als die untere, auch weitläufiger. Die in hellen Terrakottafarben gehaltenen Wände strahlten Ruhe aus. In einer geschmackvoll eingerichteten Sitzecke unterhielten sich drei Patienten. Der Pfleger, bei dem ich mich nach Frau Gärtner erkundigte, war sehr zuvorkommend, seine Nachfrage, ob ich eine Verwandte sei, schien ehrliches Interesse zu signalisieren. Es könnte nicht schaden, dachte ich, zu vermitteln, dass die alte Dame nicht allein auf der Welt war, und gab eine positive Antwort.
Marianne Gärtner lächelte mir erfreut entgegen. Ihr Einzelzimmer war doppelt so groß wie Andys, ein großes Fenster und eine Glastür führten auf einen Balkon, wo ein Liegestuhl in der Herbstsonne lockte. An der Wand hing ein riesiger Flachbildschirm, um einen runden Tisch waren drei Stühle gruppiert, darauf stand ein prachtvoller Blumenstrauß.
»Das ist ja eine Überraschung! Nehmen Sie Platz.« Mühsam erhob sie sich von dem Bett, auf dem sie gelegen hatte, und schritt mit langsamen Bewegungen zur Besucherecke. Sie trug eine Art Hausanzug aus dunkelblauem Samt, ihre Haare waren wieder perfekt onduliert. »Mit ein bisschen Glück kommt gleich der Nachmittagskaffee, dann kann ich Ihnen sogar etwas anbieten.«
Ich winkte ab und fragte, wie es ihr ginge.
»Wunderbar. Ich werde behandelt wie eine Königin. Natürlich ist es ein wenig langweilig, aber wissen Sie, das Problem habe ich nun mal zu Hause auch, seit Heinz nicht mehr ist. Aber Sie sehen aus, als ob Sie etwas bedrückt, wenn ich das sagen darf, meine Liebe.«
Ich fühlte eine seltsame Vertrautheit mit dieser Frau, die ich kaum kannte. Die Versuchung, ihr zu erzählen, was mich am Abend erwartete, war groß. Zum Glück trat in diesem Augenblick der Pfleger, mit dem ich im Flur gesprochen hatte, in den Raum, ein voll beladenes Tablett in den Händen.
»Frau Gärtner, ich habe gedacht, Ihre Großnichte mag bestimmt auch ein Stück Kuchen und eine Tasse Kaffee.«
Ich zwinkerte der alten Dame verschwörerisch zu, sie lachte leise und bedankte sich bei dem Mann. Während wir den Apfelstrudel genossen, erzählte ich von meinem Lebensgefährten und den Folgen seiner Zusammenstöße mit Hooligans.
»Verständlich, dass Sie das quält.« Betroffen ließ sie ihre blassgrauen Augen auf mir ruhen.
»Es sind genau die rechtsextremen Fußballfans, mit denen sich auch Herr Wachowiak beschäftigt hat«, ergänzte ich.
Sie nickte bloß.
»Sein Enkel Ronnie gehört wohl auch zu
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