Rudernde Hunde
war und er mein Großvater. Alles das brachte er durcheinander. Was er gelesen hatte, glaubte er, erlebt zu haben, was er erlebt hatte, fiel ihm nicht mehr ein, seine Erinnerung war ein Sieb. Aber er erzählte, und ich wollte, je mehr er sich in seinem Geschichtennetz verhedderte, um so weniger ins Bett. Ich wollte und konnte ihm stundenlang zuhören. Und die Großmutter konnte das auch. Aus Liebe zu ihm, vermutete ich später. Sie muß ja alle diese Geschichten in allen erdenklichen Abwandlungen gekannt, tausendmal gehört haben. Denn der Großvater redete fast unaufhörlich. Nur wenn mein Vater vom Krieg erzählte, schwieg er, wie gesagt. Oder er hackte draußen Holz.
Ehe ich damals begriff, wie durcheinander Großvaters Geschichten geraten waren, pochte ich stets auf die angekündigte Geschichte. »Du wolltest von dem Zauberer Bardolino erzählen, der -«
»Ah«, rief der Großvater aus, »ja, der Zauberer! Gott, daß ich ihn vergessen habe! Wie hieß er doch gleich? Pedrino hieß er, ja, Felice Pedrino, ich hab ihn damals in Alaska getroffen. Ein wunderbarer Zauberer. Ein Baum von einem Mann. Groß, schnauzbärtig, solche Muskeln, Hände wie Klodeckel - und konnte eine Stecknadel verschlucken und sie aus der großen Zehe wieder herausziehen. Das mach mal nach!«
»Lieber nicht«, sagte die Großmutter.
»Oh, was haben wir getrunken, damals in Alaska. Alaska, ja -
weißt du, wo das ist, mein Junge?«
»Du wolltest von dem Zauberer erzählen, der seine Frau in einen Leuchtturm verzaubert hat.«
Der Großvater dachte nach, suchte in seinen Erinnerungen oder dem, was er dafür hielt, und sagte schließlich seufzend: »Jaja, die Frauen sind Leuchttürme und die Männer sind Seeleute, und die Frauen leuchten an Land, und so finden die Seeleute immer wieder den Weg nach Hause. Das ist der große Zauber des Lebens. Überhaupt, das Leben, mein Junge, das ist so eine Sache, ach, ich könnte dir Geschichten erzählen...!«
Dann war es meistens Zeit, daß der Großvater und ich ins Bett mußten.
Ich liebte die Geschichten des Großvaters, die keine Geschichten und doch Geschichten waren. Ich begriff durch den Großvater, daß es überhaupt nicht darauf ankommt, ob Geschichten wahr sind. Gut erfunden müssen sie sein. Was mein Vater erzählte, war alles wahr. Wenn er erzählte, daß er am z.
September 1939, an dem Tag, als der Krieg ausbrach, mit Freunden auf einer Fahrradtour durch den Schwarzwald war, dann konnte er nicht nur alle Beteiligten noch namentlich und sogar mit ihrem Geburtsdatum nennen, er wäre sogar in der Lage gewesen, einige von ihnen heute noch als Zeugen aufzubieten, dafür, daß er am Tag des Kriegsanfangs auf einer Fahrradtour im Schwarzwald war.
»Es war am Vormittag sonnig, gegen Abend kam Regen auf, wir wurden am Ende auf den letzten acht Kilometern noch naß«, sagte er. Und du kannst alles darauf wetten, daß es genauso war. Und wenn er sagte, daß es Speck und Essiggurken gab, von denen er zweieinhalb gegessen habe, Martin Semmelmeier, geboren am 25.
Mai 1921 in Hammelburg, dagegen vier Stück, dann stimmte das auch, obwohl es niemanden interessierte.
Ehe ich endlich zu der Geschichte von Wanda und Wladimir komme, will ich noch über meine Großmutter und meine Mutter reden. Meine Großmutter war eine kleine, zierliche Frau, und sie hatte wie eine Bilderbuch-Großmutter graue Haare, im Nacken zu einer Kugel gebunden. Dutt, nannte man das. Sie konnte sehr gut erzählen, und sie brachte auch nicht wie der Großvater alles durcheinander. Wenn ich zur Großmutter sagte, »erzähl doch mal, wie das war, als du den Großvater kennengelernt hast«, dann sagte sie: »ach, das ist schon so lange her, da kann ich mich kaum mehr erinnern, er war einfach eines Tages da und wir haben geheiratet, wie alle anderen Leute auch - außerdem war er damals noch gar nicht Großvater«, sagte sie lachend. Ihr Leben sei, sagte die Großmutter, zu uninteressant, um daraus Geschichten zu erzählen. Wenn die Großmutter also Geschichten erzählte, dann waren das Geschichten von anderen Menschen, von Menschen, die sie mal kannte, von denen sie sagen gehört hatte, wie sie es nannte.
»Ich hörte mal von einer jungen Frau sagen«, erzählte sie, »von einer jungen, gerade achtzehnjährigen Frau. Sie war sehr verliebt in einen jungen, stattlichen Mann. Doch der beachtete sie nicht.
Sie dachte sich tausend Sachen aus, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Sie zog sich besonders schön an, steckte sich eine Blume ins
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