Rudernde Hunde
beginnt.
»Denke erst, dann sprich, überlege erst, was du sagen willst, dann rede, frage dich erst, ob deine Geschichte wirklich interessant ist, dann erzähle sie«, pflegte mein Großvater zu sagen, wenn ich zum Beispiel aufgeregt von einem Fahrradfahrer erzählte, der einen Schnurrbart und graue Haare hatte und eine rote Jacke mit gelben Streifen trug und auf der Straße auf einem Fahrrad fuhr und der mein Lehrer war und - und - und...
»Und - und - und - was soll das heißen?« fragte der Großvater.
Ich hatte vergessen, daß ich eigentlich erzählen wollte, daß dieser Radfahrer, der unser Lehrer war, betrunken in den Straßengraben gefahren war.
Der Großvater hatte recht. Daß der Radfahrer einen Schnurrbart und graue Haare hatte, das war nichts Besonderes, denn die hatte er ja immer und mein Großvater wußte das, weil er unseren Lehrer kannte. Und er wußte auch, daß unser Lehrer immer, wenn er Fahrrad fuhr, eine rote Jacke mit gelben Streifen trug. »Seht, da fährt er wieder - wie die Feuerwehr«, hatte der Großvater oft kopfschüttelnd gesagt. »Es hätte also«, belehrte mich der Großvater, »völlig genügt, zu erzählen: unser Lehrer ist betrunken in den Straßengraben gefahren.« Alles andere wußte man ja. Nicht einmal, daß er mit einem Fahrrad in den Straßengraben gefahren war, mußte ich erwähnen, denn unser Lehrer hatte nur ein Fahrrad, es wäre also unmöglich gewesen, daß er mit einem Auto in den Straßengraben gefahren wäre, da er ja kein Auto hatte.
Als ich meinem Vater und meiner Mutter erzählte, daß unser Lehrer betrunken in den Straßengraben gefahren war, sagte mein Vater: »Na und?« und meine Mutter: »Schon wieder.« Erst verstand ich das nicht, doch dann wurde mir klar, daß sie wußten, was ich bis dahin nicht gewußt hatte, daß nämlich unser Lehrer oft betrunken auf dem Fahrrad fuhr und fast immer im Straßengraben landete, so daß die Geschichte nur dann interessant gewesen wäre, wenn unser Lehrer betrunken Fahrrad gefahren und nicht in den Straßengraben gefahren, sondern bis nach Hause gekommen wäre.
Erwachsenen, dachte ich mir, kann man überhaupt keine Geschichten erzählen, denn sie wissen schon alles.
Als uns allerdings unsere Tante Elise, wie üblich einmal im Jahr, besuchen kam und ich ihr erzählte, daß unser Lehrer betrunken in den Straßengraben gefahren war, da sagte sie: »Jaja, diese verdammten Autos!« »Nein«, sagte ich, »mit dem Fahrrad, nicht mit dem Auto, er hat gar kein Auto.«
»Junge, das mußt du mir sagen, ich kenne doch deinen Lehrer gar nicht«, sagte Tante Elise.
Da erzählte ich ihr von unserem Lehrer. Alles, was ich wußte.
Von seinen grauen Haaren, dem Schnurrbart und der roten Jacke mit den gelben Streifen sowieso. Aber auch von seinem Unterricht und seinem Rasierwassergeruch und von seiner dünnen, traurig aussehenden Frau. Und von seinen Leserbriefen in der Lokalzeitung, die meinen Vater so ärgerten, erzählte ich, und von den Gedichten, die er schrieb, und die Namen seiner sieben Kinder sagte ich der Tante auch. Die fand das alles sehr interessant, während meine Mutter teilnahmslos dasaß und des öfteren gähnte, und mein Vater, kaum hatte ich zu erzählen begonnen, hinausging, um »drüben«, wie er sagte, »noch ein Bierchen zu trinken«. Ich wußte, daß er viele sogenannte
»Bierchen« »drüben« trank und den anderen allen, die dort ebenfalls viele solche »Bierchen« tranken, immer wieder die Geschichten aus dem Krieg erzählte, wo es ihm im Gegensatz zu anderen sehr gut gegangen war, weil er immer, wie er triumphierend sagte, gerade da war, wo der Krieg gerade nicht war. Warum die anderen, die da ihre »Bierchen« tranken, vom Vater immer wieder dieselben Geschichten hören wollten, während er nicht haben konnte, daß ich noch einmal von meinem Lehrer Dinge erzählte, die er schon wußte, das verstand ich damals nicht.
Heute glaube ich, die Männer »drüben« konnten sich nicht vorstellen, warum für meinen Vater der Krieg schön gewesen war, während er für sie alle entsetzlich war, weil er ihnen Beine oder Arme oder die Jugend oder Verwandte oder Häuser oder die Heimat weggenommen hatte. Und weil sie sich das, was mein Vater erzählte, nicht vorstellen konnten, und weil sie es vielleicht auch nicht glauben wollten, hörten sie ihm immer wieder zu. Und die meisten schwiegen. Was sie zu erzählen gehabt hätten, hätte vermutlich neben den Geschichten des Vaters sowieso nicht bestehen können.
So tranken
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