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Rudernde Hunde

Rudernde Hunde

Titel: Rudernde Hunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elke Heidenreich
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sie schweigend ihre »Bierchen« und hörten meinem Vater zu. In der Gegend, wo ich aufgewachsen bin, trinkt man das Bier übrigens aus großen Gläsern, so daß, das habe ich schon als Kind gemerkt, die Bezeichnung »Bierchen« eine maßlose Untertreibung ist. Aber ich kann mich erinnern, daß alle Männer, wenn sie damals ins Wirtshaus gingen, zu ihren Frauen sagten, sie würden jetzt hinübergehen und »ein Bierchen trinken«. Sie sagten
    »ein Bierchen«, dabei tranken sie ganz viele, und hätten sie mit dem Fahrrad fahren müssen, wären sie genauso im Straßengraben gelandet wie unser Lehrer.
    Mein Großvater, der heute dein Ur-Großvater wäre, und der der Vater meines Vaters war, hatte den Krieg nicht »draußen«, wie mein Vater das nannte, erlebt. Er war für jenen Krieg schon zu alt gewesen - und für den Krieg vor diesem Krieg zu jung. Darum erzählte der Großvater, wenn er erzählte, nie vom Krieg. Und wenn mein Vater zu Hause davon erzählte, was er oft tat, dann ging der Großvater hinaus, hackte Holz, fütterte die Kaninchen oder zupfte das Unkraut aus den Gemüsebeeten. rWenn mein Großvater erzählte, dann mußte ich sehr gut aufpassen, damit ich alles begriff. Denn wenn du denkst, daß sich der Großvater selbst an das gehalten hätte, was er mir sagte, von wegen »denk erst, dann sprich, überlege erst, was du sagen willst...« und so, dann täuschst du dich. Nichts davon!
    Der Großvater pflegte zum Beispiel zu sagen: »Heute erzähle ich euch die Geschichte vom besten Zauberer, der mir je begegnet ist.
    Er hieß Bardolino oder so ähnlich und verzauberte eines Tages seine Frau in einen Leuchtturm.« Die Großmutter lachte, und ich dachte, ah, die kennt die Geschichte schon. Meine Mutter sagte,
    »ach du immer mit deinen verrückten Geschichten«, und der Vater sagte, »ich geh drüben noch ein Bierchen trinken«, und er ging.
    Der Großvater aber erzählte. Er erzählte von der Zeit, da er noch ein Kind war. Es war die Jahrhundertwende, und der Großvater war gerade einmal drei Jahre alt, das jüngste von fünf Kindern.
    Natürlich war der Großvater damals noch nicht Großvater. Nicht einmal sein Vater war zu der Zeit schon Großvater. Aber der Vater des Vaters meines Großvaters war damals schon Großvater. Ach, ich komme damit immer durcheinander. Es ist ja auch nicht einfach. Jedenfalls, am 31. Dezember 1899 nahm der Vater des Großvaters, der also mein Ur-Großvater war, den kleinen Großvater, die Mutter und die anderen vier Kinder, alles Jungs, ging mit ihnen auf einen Hügel und erwartete das Jüngste Gericht.
    Denn der Vater des Großvaters glaubte, daß mit dem Ende des Jahrhunderts auch die Welt zu Ende wäre. Als aber bis in den Vormittag des i. Januar 1900 hinein die Welt wider Erwarten nicht unterging, ging er mit seiner Familie wieder in sein Haus, erfand eine Maschine, mit der man nasse Wäsche trocknen konnte, gründete eine Firma, bekam mit seiner Frau noch vier Söhne und eine Tochter und war zufrieden.
    »Und der Zauberer«, sagte ich.
    »Was für ein Zauberer?« fragte der Großvater. »Ich kenne keinen Zauberer. Kind, was redest du von einem Zauberer?«
    Der Großvater erzählte weiter. Vom Kaiser erzählte er, den es damals noch gab, und vom Zaren in Rußland erzählte er und von der langen Eisenbahn, die von Deutschland bis nach Peking in China führte und für die sein Vater, nachdem er sein ganzes Geld mit der Maschine zum Trocknen von Wäsche verloren hatte, Brücken baute. Und wie er die Großmutter, seine spätere Frau, kennenlernte und wie er nach Amerika gehen wollte, erzählte er.
    Und daß er einmal sogar in Amerika war, erzählte er, mit allen seinen Brüdern und seinen Eltern und mit seiner Frau, der Großmutter. Die Großmutter lachte, denn sie wußte wie ich, daß er nie in Amerika war, daß seine ältesten vier Brüder und sein Vater im Krieg in Frankreich umgekommen waren, daß er die Großmutter erst nach diesem Krieg kennengelernt hatte und daß niemand aus unserer Familie je in Amerika war.
    Der Großvater ließ sich nicht beirren. Er erzählte von den Indianern, die er besucht hatte, von Chicago und New York, von Texas, wo, als er gerade auf der Straße ging, ein Schuß fiel und ein Präsident erschossen wurde.
    Da merkte ich, daß der Großvater in seinen Geschichten alle Dinge durcheinanderbrachte. Die Dinge, die geschahen, als er jung war, die Ereignisse, von denen er nur gelesen hatte, das, was gerade aktuell passierte, zu der Zeit, da ich ein Kind

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