Rueckkehr ins Leben
in den Bus und wurden ungefähr eine Stunde später an einer alten Brücke
abgesetzt. Wir zahlten beim Fahrer und überquerten jeweils zu zweit hintereinander die rostige Brücke und mussten dann einen ganzen Tag lang bis an eine Kreuzung laufen, wo wir auf einen weiteren Bus warteten, der am folgenden Tag ein-treffen sollte. Dies war die einzige Möglichkeit, Freetown zu verlassen, ohne von bewaffneten Männern und Jungen der
neuen Regierung erschossen zu werden, die es nicht dulde-
ten, dass Menschen die Stadt verließen.
Wir waren mehr als dreißig an der Kreuzung. Wir saßen
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auf dem Boden in der Nähe des Gebüschs und warteten die
ganze Nacht über. Niemand sagte ein Wort zu einem ande-
ren, da wir alle wussten, dass wir dem Wahnsinn noch nicht entronnen waren. Eltern flüsterten ihren Kindern etwas zu, hatten Angst, ihre Stimmen zu erheben. Einige starrten auf den Boden, während andere mit Steinen spielten. Der Wind
trug den Klang entfernter Schüsse heran. Ich saß am Stra-
ßenrand und kaute rohen Reis, den ich in einer Plastiktüte dabei hatte. Wann werde ich aufhören, vor dem Krieg davonzulaufen? Was ist, wenn der Bus nicht kommt? Ein
Nachbar in Freetown hatte mir von diesem einzigen Weg
aus dem Land heraus erzählt. Bis jetzt schien er sicher zu sein, aber ich machte mir Sorgen, denn ich wusste, wie
schnell sich unter solchen Umständen alles zum Schlechte-
ren wenden konnte.
Ich steckte den Reis in meine Tasche zurück und ging die
Schotterstraße ab, auf der Suche nach einer geeigneten Stelle, wo ich die Nacht über sitzen konnte. Einige schliefen im
Gebüsch in der Nähe der Haltestelle. Auf diese Weise wür-
den sie den Bus hören, wenn er irgendwann in der Nacht
heranfuhr. Weiter unten fegten andere Plätze frei unter den ineinander verflochtenen Zweigen der Pflaumenbäume. Sie
schoben die trockenen Blätter mit den Händen beiseite und häuften frische Blätter auf, um die Köpfe darauf zu legen.
Einer der Männer bastelte einen Besen aus den Zweigen eines Baumes, mit dem er sehr wirksam die Blätter wegfegte. Ich sprang über den Straßengraben, lehnte mich an einen Baum
und dachte die Nacht über an meinen Onkel, dann an mei-
nen Vater, meine Mutter, meine Brüder und meine Freunde.
Wieso starben mir alle weg? Ich ging die Straße auf und ab und versuchte, meine Wut in Zaum zu halten.
Am Morgen standen die Leute auf und klopften sich den
Staub von den Kleidern. Einige Männer wuschen sich mit
Tau, den sie von den Blättern kleiner Pflanzen und Bäume
schüttelten, und rieben sich das spärliche Wasser in die Gesichter und auf die Köpfe. Nachdem wir stundenlang unge-
duldig gewartet hatten, hörten wir nun das dumpfe Geräusch eines Motors von der Straße. Wir waren nicht sicher, ob es 246
der Bus war, deshalb nahmen wir unsere Taschen und ver-
steckten uns im Gebüsch am Straßenrand. Das Geräusch des
jaulenden Motors wurde lauter, bis der Bus endlich in Sichtweite kam. Alle rannten aus den Verstecken und winkten
dem Bus, der nun anhielt. Wir stiegen schnell ein und fuhren ab. Als der Bus losfuhr, ging der Kontrolleur herum, um das Fahrgeld einzusammeln. Ich zahlte nur den halben Fahrpreis, weil ich noch keine achtzehn Jahre alt war, aber selbst der halbe Preis war höher als der volle Preis in Friedenszeiten. Ich sah aus dem Fenster und beobachtete die vorbeiziehenden
Bäume. Und dann fuhr der Bus langsamer, und statt der
Bäume standen nun Soldaten mit großen Gewehren da, die
alle auf die Straße und auf den Bus zielten. Sie forderten uns auf auszusteigen und ließen uns dann eine Sperre passieren.
Ich sah mich um. In den Büschen entdeckte ich noch mehr
Männer mit Maschinenpistolen und Granatwerfern. Ich be-
trachtete ihre Formation und wäre beinahe gegen einen Soldaten gestoßen, der auf den Bus zuging. Er sah mich mit
blutunterlaufenen Augen und einem Gesichtsausdruck an, der besagte: »Wenn es mir passt, töte ich dich, und niemanden wird’s interessieren.« Ich kannte diesen Blick.
Sie durchsuchten den Bus aus Gründen, die niemand ver-
stand. Nach ein paar Minuten waren wieder alle an Bord. Als wir langsam anfuhren, sah ich die Barrikade verschwinden und erinnerte mich, wie wir solche Barrikaden angegriffen hatten.
Ich schob diese Gedanken beiseite, bevor sie mich wieder in jene Zeiten zurückversetzten. Es gab viel zu viele Barrikaden, und an jeder benahmen sich die Soldaten anders. Einige verlangten Geld, obwohl die Passagiere
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