Rueckkehr ins Leben
Häusern gesäumten
Straße. Ein Helikopter, der über uns kreiste, flog tiefer und bewegte sich auf die Menge zu. Mohamed und ich wussten,
was jetzt kam. Wir rannten auf den nächstgelegenen Straßengraben zu und warfen uns hinein. Der Helikopter senkte sich auf die Straße. Kaum war er ungefähr 25 Meter von den
Demonstranten entfernt, drehte er sich und stand nun quer vor ihnen. Ein Soldat, der auf der offenen Seite saß, eröffnete das Feuer mit einem Maschinengewehr und mähte die Menge nieder. Die Menschen rannten um ihr Leben. Die Straße, die eine Minute zuvor noch voller Transparente und Lärm
gewesen war, hatte sich nun in einen stillen Friedhof der unruhigen Seelen verwandelt, die sich mit ihrem plötzlichen Tod nicht abfinden konnten.
Mohamed und ich rannten gebückt durch die Gassen. Wir
kamen an einen Zaun an einer Hauptstraße, auf der eine
Straßensperre errichtet war. Bewaffnete Männer patrouillier-239
ten durch die Gegend. Wir lagen sechs Stunden im Straßen-
graben und warteten auf den Anbruch der Dunkelheit. Die
Chancen, dem Tod zu entgehen, standen in der Nacht besser, denn im Dunkeln konnte man den roten Schweif der Kugeln
sehen. Bei uns waren noch andere. Einer, ein Student in einem blauen T-Shirt, hatte ein verschwitztes Gesicht und
wischte sich alle paar Sekunden die Stirn mit seinem Hemd ab. Eine junge Frau, wahrscheinlich Anfang zwanzig, hatte den Kopf zwischen den Knien, zitterte und schaukelte hin
und her. An der Wand hinter uns lehnte ein bärtiger Mann, auf dessen Hemd das Blut eines anderen klebte, er hielt den Kopf in die Hände gestützt. Ich fühlte mich schlecht wegen all dem, was geschah, hatte aber nicht so viel Angst wie die Leute, die den Krieg zuvor noch nie erlebt hatten. Für sie war es das erste Mal, und es schmerzte mich, sie so zu sehen.
Ich hoffte, dass mein Onkel sich nicht zu große Sorgen um uns machen würde. Weitere Schüsse und eine Wolke Trä-
nengas drangen zu uns. Wir hielten uns die Nase zu, bis der Wind das Gas weggeweht hatte. Die Nacht schien noch so
weit weg, dass wir das Gefühl hatten, auf den Jüngsten Tag zu warten. Endlich aber wurde es dunkel und wir schafften den Weg nach Hause, duckten uns hinter Häusern und
sprangen über Zäune.
Mein Onkel saß mit Tränen in den Augen auf der Veran-
da. Als ich ihn begrüßte, sprang er auf, als hätte er einen Geist gesehen. Er umarmte uns lange und meinte, wir sollten nicht mehr in die Stadt gehen. Aber wir hatten keine andere Wahl.
Wir würden gehen müssen, um mehr Lebensmittel zu besor-
gen.
Die Schüsse hielten die darauf folgenden fünf Monate an.
Sie bildeten die neue Geräuschkulisse der Stadt. Morgens
saßen die Familien auf ihren Veranden und hielten ihre Kinder eng an sich gedrückt, starrten auf die Straßen der Stadt, durch die Gruppen Bewaffneter zogen, plünderten, vergewal-tigten und grundlos Menschen erschossen. Mütter schlangen die zitternden Arme um ihre Kinder, jedes Mal, wenn die
Schüsse lauter wurden. Die Menschen ernährten sich größ-
tenteils von eingeweichtem rohen Reis mit Zucker oder ein-240
fachem Gari mit Salz und hörten Radio in der Hoffnung auf gute Nachrichten. Tagsüber stiegen Rauchwolken aus den
Häusern auf, die die Bewaffneten in Brand gesetzt hatten.
Wir hörten ihr überdrehtes Lachen beim Anblick der bren-
nenden Häuser. Eines Abends hörte ein Nachbar, der ein paar Häuser weiter vom Haus meines Onkels wohnte, einen Pira-tensender, in dem der neuen Regierung vorgeworfen wurde,
Verbrechen an Zivilisten zu begehen. Wenige Minuten später hielt ein Transporter voller Soldaten vor dem Haus des Mannes. Sie zerrten den Mann, dessen Frau und die beiden ältesten Söhne nach draußen, erschossen sie und traten ihre Leichen in den Rinnstein. Mein Onkel musste sich übergeben,
nachdem wir das beobachtet hatten.
In den ersten drei Wochen hatten die Leute so viel Angst, dass sie es nicht wagten, ihre Häuser zu verlassen. Doch schon bald gewöhnten sich alle an die Schüsse und an den Wahnsinn. Die Menschen gingen ihren alltäglichen Verrichtungen nach, versuchten Lebensmittel aufzutreiben, obwohl die Gefahr bestand, von verirrten Kugeln getroffen zu werden. Kinder spielten Ratespiele, fragten einander ab, ob ein Schuss von einer Kalaschnikow, einem G3-Gewehr, einer Panzerfaust oder einem Maschinengewehr stammte. Ich saß meistens mit Mohamed draußen auf dem flachen Stein – und wir verloren beide kaum Worte. Ich dachte daran, dass wir so
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