Rueckkehr ins Leben
weit vor dem Krieg davongelaufen waren und er uns nun wieder
eingeholt hatte. Jetzt konnten wir nirgendwo mehr hin.
Ich hatte den Kontakt zu Laura in New York schon vor
über fünf Monaten verloren. Davor hatten wir uns ständig
Briefe geschrieben. Sie erzählte mir, was sie so machte und fragte mich, ob ich auch gut auf mich aufpasse. Ihre Briefe kamen von überall aus der Welt, wo sie Projekte über das
Geschichtenerzählen hatte. Bis vor kurzem hatte ich noch
jeden Tag versucht, sie mit einem R-Gespräch zu erreichen, aber das hatte nicht geklappt. Die Telefone der Sierra-Tel, der nationalen Telefongesellschaft, funktionierten nicht mehr.
Jeden Tag saß ich mit meinem Onkel, meinem Cousin und
meinen Cousinen auf der Veranda und schaute auf die Stadt.
Wir hörten keine Kassetten mehr, denn die Ausgangssperre
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begann vor Anbruch der Dunkelheit. Mein Onkel lachte
immer weniger und seufzte immer mehr. Wir hofften wei-
terhin, dass sich alles zum Guten wenden würde, aber es
wurde nur noch schlimmer.
Mein Onkel wurde krank. Eines Morgens saßen wir auf
der Veranda, und er meinte, es ginge ihm nicht gut. Am
Abend bekam er Fieber und lag im Haus und stöhnte. Allie
und ich gingen in einen Laden in der Nähe und kauften Me-
dizin, aber das Fieber stieg täglich. Tante Sallay zwang ihn zu essen, aber er erbrach alles wieder, kaum dass sie ihn gefüttert hatte. Alle Krankenhäuser und Apotheken waren geschlossen.
Wir suchten in der Stadt nach Ärzten oder Krankenschwes-
tern, aber die, die noch da waren, weigerten sich mitzukommen, aus Angst, nie wieder zu ihren Familien zurückkehren zu können. Eines Abends saß ich bei meinem Onkel und
wischte ihm die Stirn, als er aus dem Bett fiel. Ich fing seinen langen Körper mit den Armen auf und hielt seinen Kopf in
meinem Schoß. Seine Wangenknochen stachen aus seinem
runden Gesicht hervor. Er sah mich an, und ich konnte in
seinen Augen sehen, dass er die Hoffnung aufgegeben hatte.
Ich flehte ihn an, uns nicht zu verlassen. Seine Lippen wollten noch etwas sagen, doch dann hörten sie auf zu zittern, und er war tot. Ich hielt ihn in den Armen und dachte daran, wie ich seiner Frau die Nachricht beibringen sollte. Sie machte gerade in der Küche Wasser für ihn heiß. Wenig später kam sie herein, ließ den Kessel mit dem heißen Wasser fallen und spritzte uns beide nass. Sie wollte nicht glauben, dass ihr Mann gestorben war. Ich hielt meinen Onkel noch immer in
den Armen, Tränen liefen mir übers Gesicht. Mein ganzer
Körper war taub. Ich konnte mich nicht bewegen. Mohamed
und Allie kamen herein, nahmen meinen Onkel aus meinen
Armen und legten ihn auf das Bett. Nach ein paar Minuten
war ich wieder in der Lage aufzustehen. Ich ging hinter das Haus und boxte gegen den Mangobaum, bis mich Mohamed
wegzog. Ich verlor immer genau das, was mir etwas bedeutete.
Meine Cousinen weinten und fragten: »Wer sorgt denn
jetzt für uns? Wieso muss uns das in diesen schweren Zeiten passieren?«
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Unten in der Stadt wurde geschossen.
Mein Onkel wurde am folgenden Morgen begraben.
Selbst inmitten all des Wahnsinns erschienen viele Leute auf seiner Beerdigung. Ich ging hinter dem Sarg her, das Ge-räusch meiner Schritte prägte sich in mein Herz ein. Ich hielt meine Cousinen und Mohamed an den Händen. Meine Tante hatte versucht, zum Friedhof zu gehen, aber sie war zu-sammengebrochen, noch bevor sie das Haus verlassen hatte.
Auf dem Friedhof las der Imam einige Suren, und mein On-
kel wurde in ein Loch herabgesenkt und mit Erde bedeckt.
Die Leute gingen rasch wieder auseinander, um mit ihrem
Leben fortzufahren. Ich blieb mit Mohamed zurück. Ich setz-te mich neben dem Grab auf den Boden und sprach mit mei-
nem Onkel. Ich sagte ihm, dass es mir leid tat, dass wir keine Hilfe für ihn hatten finden können, dass er hoffentlich wusste, wie sehr ich ihn liebte, und dass ich mir gewünscht hätte, er hätte mich als Erwachsenen erleben können. Als ich fertig war, legte ich die Hände auf den Erdhaufen und weinte leise.
Mir war nicht bewusst, wie lange ich auf dem Friedhof gewesen war, bis ich aufhörte zu weinen. Es war bereits spät am Abend, und die Sperrstunde begann. Mohamed und ich rannten so schnell wir konnten nach Hause, bevor die Soldaten zu schießen begannen.
Ein paar Tage nach der Beerdigung meines Onkels gelang
es mir endlich, Laura telefonisch zu erreichen. Ich fragte sie, ob ich bei ihr wohnen könnte, wenn ich es bis nach New
York
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