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Rueckkehr ins Leben

Rueckkehr ins Leben

Titel: Rueckkehr ins Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ishmael Beah
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den Stamm unten zu zerbeißen. Ich
    kletterte immer höher. Nach einer Weile gaben sie endlich auf, als eine Grille den Anbruch der Nacht verkündete.
    Meine Großmutter hatte mir einst eine Geschichte über
    einen berüchtigten Wildschweinjäger erzählt, der sich mithilfe von Magie in einen wilden Eber verwandelte. Er führte die Herde auf eine Lichtung im Wald, wo er plötzlich wieder
    Menschengestalt annahm, die Schweine fing und erschoss.
    Eines Tages, als er seinen Trick anwandte, sah eines der
    Schweine, wie der Jäger eine Pflanze aß, mit der er sich wieder in Menschengestalt zurückverwandelte. Das Schwein er-
    zählte seinen Gefährten, was es gesehen hatte. Die Herde
    suchte den ganzen Wald nach der Zauberpflanze des Jägers ab 62
    und vernichtete jede Einzelne. Am nächsten Tag wollte der Jäger seinen Trick wieder anwenden und lockte die Herde
    auf einen ungeschützten Platz. Aber er konnte nirgends die Pflanze finden, die ihn wieder zum Menschen machte. Darauf rissen ihn die Schweine in Stücke. Seit jenem Tag haben
    Wildschweine jedes Vertrauen in den Menschen verloren,
    und immer, wenn sie jemanden im Wald antreffen, denken
    sie, dieser Mensch sei gekommen, um den Jäger zu rächen.
    Nachdem die Schweine verschwunden waren und ich
    noch lange das ganze Gebiet mit den Augen abgesucht hatte, kletterte ich hinunter und lief weiter. Ich wollte die Gegend möglichst vor der Dämmerung verlassen haben, da ich be-fürchtete, noch einmal auf Wildschweine zu stoßen, wenn
    ich bliebe. Ich ging die ganze Nacht und auch noch den folgenden Tag. Bei Anbruch der nächsten Nacht sah ich Eulen
    aus ihren Verstecken kriechen, die ihre Augen verdrehten
    und sich streckten, um sich an ihre Umgebung zu gewöhnen
    und auf die Nacht vorzubereiten. Ich ging rasch, aber sehr ruhig, bis ich aus Versehen auf den Schwanz einer Schlange trat. Sie zischte und kam auf mich zu. Ich rannte davon, so schnell ich konnte, ich lief und lief. Als ich sechs Jahre alt war, hatte mir mein Großvater eine Medizin unter die Haut gespritzt, die mich vor Schlangenbissen schützen und mir die Gabe verleihen sollte, Schlangen zu beherrschen. Aber kaum war ich in die Schule gekommen, hatte ich begonnen, an der Wirksamkeit der Medizin zu zweifeln. Danach konnte ich
    keinen Schlangen mehr Einhalt gebieten.
    Als ich noch sehr klein war, hatte mein Vater immer zu
    mir gesagt: »Solange du lebst, gibt es auch Hoffnung auf bessere Zeiten und darauf, dass etwas Gutes passiert. Wenn das Schicksal gar nichts Gutes mehr für eine Person bereithält, dann stirbt sie.« Ich dachte auf meiner Wanderung über diese Worte nach, und sie hielten mich in Bewegung, obwohl ich
    nicht wusste, wohin ich ging. Jene Worte wurden zum An-
    trieb meines Geistes und hielten ihn am Leben.
    Ich war nun schon über einen Monat im Wald gewesen,
    als ich endlich wieder auf Menschen traf. Die einzigen Lebe-wesen, denen ich begegnet war, waren Affen, Schlangen,

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    Wildschweine und Rehe gewesen, aber niemand, mit dem
    ich eine Unterhaltung hätte führen können. Manchmal beo-
    bachtete ich die Äffchen, wie sie übten, von Baum zu Baum zu springen, oder betrachtete die neugierigen Augen eines Rehs, das meine Anwesenheit spürte. Das Knacken der Äste
    in den Bäumen wurde für mich Musik. An manchen Tagen
    ergab dieses Knacken einen durchgängigen Rhythmus, der
    mir sehr gefiel und dessen Klang eine Zeit lang nachhallte und sich dann in den Tiefen des Waldes verlor.
    Ich ging langsam, torkelte vor Hunger, Rückenschmerzen
    und Müdigkeit, als ich an einer Gabelung, an der zwei Pfade zu einem wurden, auf ein paar Jungen meines Alters stieß.
    Ich trug eine Hose, die ich erst kürzlich gefunden hatte – sie hatte in einem der verlassenen Dörfer an einer Stange gehan-gen. Sie war mir viel zu groß, deshalb hielt ich sie mit einer Schnur zusammen, damit sie beim Gehen nicht rutschte. Wir kamen gleichzeitig an der Gabelung an, und als wir einander entdecken, waren wir wie gelähmt vor Angst. Ich stand da
    und konnte nicht wegrennen. Ich erkannte ein paar der Ge-
    sichter wieder und lächelte, um die Anspannung und Unsi-
    cherheit zu überspielen. Es waren sechs Jungen, und drei von ihnen – Alhaji, Musa und Kanei – hatten mit mir die Cen-tennial Secondary School in Mattru Jong besucht. Wir waren nicht eng befreundet gewesen, aber einmal hatten wir alle vier Schläge bekommen, weil wir aufsässig gegenüber einem älteren Aufsichtsschüler gewesen waren. Nach der Bestrafung, die

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