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Rueckkehr ins Leben

Rueckkehr ins Leben

Titel: Rueckkehr ins Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ishmael Beah
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der der
    Vater sein musste, fragte mich. »Wo kommst du her und wo-
    hin gehst du?« Er war Mende und verstand sehr wohl Krio.
    »Ich komme aus Mattru Jong und hab keine Ahnung, wo-
    hin ich gehe.« Ich wischte mir das Wasser aus dem Gesicht und fuhr dann fort. »Wohin willst du mit deiner Familie?« Er ignorierte meine Frage und tat, als hätte er mich nicht gehört.
    Daraufhin fragte ich ihn, ob er den schnellsten Weg nach
    Bonthe kannte, einer Insel im Süden von Sierra Leone und, laut Hörensagen, einem der sichersten Orte damals. Er erklär-te mir, wenn ich immer weiter aufs Meer zuging, würde ich

    * In Sierra Leone wird Krio, eine auf dem Englischen basierende Kreolsprache, die verschiedene afrikanische Einflüsse vermischt, von vielen als Verkehrssprache benutzt.

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    irgendwann Leuten begegnen, die besser wüssten, wie man
    nach Bonthe kommt. Am Ton seiner Stimme war deutlich zu
    erkennen, dass er mich nicht gerne in der Nähe hatte und mir nicht vertraute. Ich sah in die neugierigen und skeptischen Gesichter der Kinder und der Frau. Ich war froh, endlich
    wieder Menschen zu sehen, und gleichzeitig enttäuscht, dass der Krieg die Freude an der Begegnung mit anderen zerstört hatte. Selbst einem Zwölfjährigen durfte man nicht mehr
    trauen. Ich stieg aus dem Wasser, dankte dem Mann und
    machte mich wieder auf den Weg in die Richtung, von der
    er behauptet hatte, dass sie mich ans Meer führte.
    Bedauerlicherweise kenne ich die Namen der meisten
    Dörfer, die mir in jener Zeit Unterkunft und Nahrung spendeten, nicht. Es gab dort niemanden, den ich hätte fragen können, und in diesen Gegenden gab es keine Schilder, auf denen die Namen der Dörfer gestanden hätten.

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    Ich marschierte zwei Tage, ohne zu schlafen. Halt machte ich nur an Bächen, um Wasser zu trinken. Ich hatte das Gefühl, als sei jemand hinter mir her. Oft erschreckte mich mein eigener Schatten, sodass ich meilenweit rannte. Alles kam mir seltsam brutal vor. Sogar die Luft schien mich angreifen und mir das Genick brechen zu wollen. Ich wusste, dass ich hungrig war, aber ich hatte weder Appetit noch die Kraft, nach Essbarem zu suchen. Ich war durch niedergebrannte Dörfer
    gekommen, in denen die Leichen von Männern, Frauen und
    Kindern aller Altersstufen verstreut auf dem Boden lagen wie Blätter nach einem Sturm. In ihren Augen war noch die
    Angst abzulesen, als hätte der Tod sie nicht vom Wahnsinn befreit, der sich immer weiter ausbreitete. Ich hatte Köpfe gesehen, die mit Macheten abgeschnitten oder mit Zementsteinen zertrümmert worden waren, und Flüsse, die so voller Blut waren, dass kein Wasser mehr in ihnen floss. Jedes Mal, wenn sich diese Bilder in meinem Kopf abspulten, beschleunigte ich meinen Schritt. Manchmal schloss ich die Augen
    ganz fest, um nicht denken zu müssen, aber mein geistiges Auge ließ sich nicht einfach schließen und plagte mich weiter mit Bildern. Mein Körper zuckte vor Angst und mir wurde
    schwindlig. Ich sah, wie sich die Blätter an den Bäumen
    wiegten, aber ich konnte den Wind nicht spüren.
    Am dritten Tag befand ich mich mitten in einem dichten
    Wald, stand unter gewaltigen Bäumen, deren Blätter und
    Äste den Blick auf den Himmel verdeckten. Ich konnte mich nicht erinnern, wie ich dorthin gekommen war. Die Nacht
    rückte heran, deshalb fand ich einen geeigneten Baum, der nicht zu hoch zum Draufklettern war; seine Äste waren mit 57
    denen eines anderen verflochten und bildeten eine Art Hängematte. Ich verbrachte die Nacht in den Armen jener Bäu-
    me, hing zwischen Himmel und Erde.
    Am nächsten Morgen war ich wild entschlossen, aus dem
    Wald herauszufinden, obwohl mir der Rücken nach der
    Nacht auf dem Baum schrecklich wehtat. Unterwegs stieß ich auf eine Quelle, die unter einem gigantischen Felsen hervor-sprudelte. Ich setzte mich daneben, um auszuruhen. Plötzlich blickte ich einer riesigen dunklen Schlange direkt in die Augen, die sich rasch hinter einen Busch zurückzog. Ich suchte einen langen kräftigen Stock zu meinem Schutz, saß da und spielte mit den Blättern auf dem Boden, um die Gedanken
    aus meinem Kopf zu vertreiben, die mich beschäftigten. Aber sie quälten mich weiter – und jeder Versuch, sie beiseitezu-schieben, war vergebens. Also beschloss ich weiterzugehen, tastete mit dem Stock, den ich in der Hand hielt, den Boden ab. Ich ging den ganzen Morgen bis in den Abend hinein und fand mich an derselben Stelle wieder, an der ich die vorangegangene Nacht verbracht hatte.

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