Rueckkehr ins Leben
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mich an etwas, das Saidu eines Abends gesagt hatte, nachdem wir wieder einmal einen Angriff von Männern mit Lanzen
und Äxten knapp überlebt hatten. Jumah, Moriba und Musa
schliefen auf der Veranda, die wir belegt hatten. Alhaji, Kanei, Saidu und ich blieben wach und lauschten still in die Nacht. Saidus schweres Atmen machte unser Schweigen er-träglicher. Nachdem ein paar Stunden verstrichen waren,
fragte Saidu mit sehr tiefer Stimme, so als würde jemand
durch ihn sprechen: »Wie oft müssen wir uns noch mit dem
Tod arrangieren, bevor wir endlich in Sicherheit sind?«
Er wartete einige Minuten, aber wir drei sagten nichts. Er fuhr fort: »Jedes Mal, wenn Leute in der Absicht auf uns zukommen uns umzubringen, schließe ich die Augen und warte
auf den Tod. Obwohl ich noch am Leben bin, habe ich das
Gefühl, als würde jedes Mal, wenn ich den Tod akzeptiere, ein Teil von mir sterben. Bald werde ich ganz und gar tot sein, und alles, was dann von mir übrig bleibt, ist mein leerer Körper, der mit euch geht. Er wird ruhiger sein als ich.« Saidu hauchte in seine Handflächen, um sie zu wärmen und
legte sich auf den Boden. Sein schwerer Atem wurde noch
langsamer, und ich wusste, dass er eingeschlafen war. Nacheinander schliefen auch Kanei und Alhaji ein. Ich saß auf der Holzbank, lehnte mich an eine Wand und dachte über Saidus Worte nach. Tränen traten mir in die Augen und meine Stirn wurde heiß, als ich mir Saidus Gedanken noch einmal ins
Bewusstsein rief. Ich versuchte mir einzureden, dass ich nicht, wie er, auf der Suche nach Sicherheit langsam starb. In jener Nacht schlief ich erst ein, als mich der letzte Morgenwind, der mich unwiderstehlich zum Schlafen drängte, von meinen umherschweifenden Gedanken befreite.
Obwohl unsere Reise schwierig war, gab es doch ab und
zu etwas, das uns normal vorkam und uns einen kurzen Mo-
ment lang glücklich machte. Eines Morgens erreichten wir
ein Dorf, in dem sich die Männer gerade für die Jagd bereit machten. Sie luden uns ein mitzukommen. Am Ende der
Jagd zeigte einer der älteren Männer auf uns und rief: »Heute Abend gibt es ein Festessen und die Fremden sind herzlich dazu eingeladen.« Die anderen Männer klatschten und gingen 81
zurück zum Dorf. Wir folgten ihnen. Sie sangen, trugen ihre Netze und die Tiere, die sie gefangen hatten – hauptsächlich Stachelschweine und Rehe – auf den Schultern.
Bei unserer Ankunft im Dorf klatschten die Frauen und
Kinder zur Begrüßung. Es war bereits nach Mittag. Der
Himmel war blau, und Wind kam auf. Einige der Männer
verteilten das Fleisch unter mehreren Haushalten, der Rest wurde den Frauen gegeben, damit sie es für das Festmahl zubereiten konnten. Wir blieben im Dorf und holten Wasser
für die Frauen, die das Essen zubereiteten. Die meisten Männer waren wieder zur Arbeit in die Plantagen gegangen.
Ich lief alleine im Dorf herum und fand eine Hängematte
auf einer der Veranden. Ich legte mich hinein und schaukelte langsam, damit meine Gedanken in Gang kamen. Ich dachte
daran, wie ich meine Großmutter besucht hatte und in der
Hängematte auf der Plantage geschlafen hatte. Manchmal
wenn ich aufgewacht war, hatte ich ihr direkt in die Augen gestarrt, während sie mit meinem Haar spielte. Sie kitzelte mich und gab mir eine Gurke zu essen. Meist stritten Junior und ich uns um die Hängematte. Wenn er sie bekam, lockerte ich die Seile der Matte, sodass er hinfiel, sobald er sich reinsetz-te. Das verdarb ihm den Spaß daran und er machte dann lieber etwas anderes auf dem Hof. Meine Großmutter kannte meine
Tricks und machte sich über mich lustig, sie nannte mich Car-seloi, was Spinne bedeutet. In vielen Mende-Geschichten legt die Spinne die anderen Tiere rein, damit sie bekommt, was sie will, doch immer gehen ihre Tricks nach hinten los.
Als ich über diese Dinge nachdachte, fiel ich aus der Hängematte. Ich war zu faul, um aufzustehen, also setzte ich mich auf den Boden und dachte an meine beiden Brüder, meinen
Vater, meine Mutter und meine Großmutter. Ich wünschte
mir, jetzt bei ihnen zu sein.
Ich verschränkte die Hände hinter dem Kopf und lag auf
dem Rücken, versuchte die Erinnerungen an meine Familie
wachzuhalten. Ihre Gesichter waren irgendwo tief in meinem Gedächtnis vergraben, und um an sie heranzukommen, musste ich schmerzhafte Erinnerungen aufrufen. Ich sehnte mich nach den sanften, dunklen und glänzenden Händen meiner
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Großmutter, der festen Umarmung meiner
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