Rueckkehr ins Leben
näher zu ihm herangeführt wurde, fragte er mich,
wo ich diese Art von Musik her hätte und wozu sie gut sei.
Ich erklärte ihm, dass man das als Rapmusik bezeichnete und dass ich, mein Bruder und meine Freunde – nicht die, mit
denen ich gerade hier war – sie gerne gehört und die Songs bei Talentwettbewerben vorgeführt hatten. Ich merkte, dass er dies interessant fand, denn sein Gesicht entspannte sich allmählich. Er bat die Männer, meine Fesseln zu lösen und mir meine Hosen zurückzugeben.
»Jetzt zeigst du mir, wie du, dein Bruder und deine
Freunde das gemacht habt«, sagte der Häuptling.
Ich spulte das Band zurück, machte die entsprechenden
Mundbewegungen und tanzte barfuß zu »O.P.P.« im Sand. Es
machte keinen Spaß, und ich dachte zum ersten Mal über
den Text nach, hörte die einzelnen Instrumente genau aus
dem Beat heraus. Das hatte ich noch nie getan, weil ich den Text auswendig kannte und den Beat spürte. Diesmal spürte ich ihn nicht. Während ich hoch und runter hüpfte, mich
wand und Arme und Beine im Takt der Musik hob, dachte
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ich daran, wie es wäre, in den Ozean geworfen zu werden,
wie schwer es sein würde, zu wissen, dass der Tod unaus-
weichlich war. Die Falten auf der Stirn des Häuptlings glätteten sich. Er lächelte noch immer nicht, aber er stieß einen Seufzer aus, der besagte, dass ich nur ein Kind war. Am Ende des Songs rieb er sich den Bart und sagte, mein Tanz habe ihn beeindruckt und den Gesang fände er »interessant«. Er verlangte, dass die nächste Kassette eingelegt wurde. Es war LL Cool J. Ich begleitete den Song »I Need Love« pantomi-misch.
When I’m alone in my room sometimes I stare at the wall
And in the back of my mind I hear my conscience call
Der Häuptling drehte den Kopf in beide Richtungen, als
würde er versuchen wollen zu verstehen, was ich sagte. Ich beobachtete ihn, um zu sehen, ob sich sein Gesicht verfinster-te, aber ein eher amüsierter Ausdruck blitzte dort auf. Er ord-nete an, dass alle meine Freunde losgebunden wurden und sie ihre Kleidung wiedererhielten. Der Häuptling erklärte, dass es sich um ein Missverständnis gehandelt habe und dass wir
doch nur Kinder seien, die versuchten, sich in Sicherheit zu bringen. Er wollte wissen, ob wir alleine in der Hütte gewesen waren oder ob deren Besitzer von uns gewusst hatte. Ich erklärte ihm, dass wir alleine dort gewesen seien und bis zu jenem Morgen keinen Kontakt zu irgendjemandem gehabt
hatten. Der Häuptling sagte daraufhin, dass er uns gehen lie-
ße, aber dass wir die Gegend sofort zu verlassen hätten. Er gab mir meine Kassetten wieder, und wir machten uns auf
den Weg. Unterwegs betrachteten wir die Fesselspuren an
unseren Handgelenken und lachten laut über das, was passiert war, um nicht weinen zu müssen.
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Das Beunruhigendste an meiner Reise war, sowohl mental,
körperlich wie auch emotional, dass ich nicht sicher war, wann oder wo sie enden würde. Ich wusste nicht, was mit
meinem Leben passierte. Ich hatte das Gefühl, immer und
immer wieder von vorne anzufangen. Ich war ständig in Be-
wegung, immer irgendwohin unterwegs. Während wir gin-
gen blieb ich oft zurück und dachte über diese Dinge nach.
Mein Ziel war es, jeden einzelnen Tag, der da kommen
mochte, zu überleben. Selbst in den Dörfern, in denen es uns gelang, ein kleines bisschen Glück zu finden, wenn man uns Essen oder frisches Wasser gab, war mir dennoch stets bewusst, dass das nur vorübergehende Momente waren und wir
uns auf der Durchreise befanden. Deshalb konnte ich auch
nicht richtig glücklich darüber sein. Es war viel leichter, traurig zu sein, als ständig zwischen den Gefühlen hin- und her zu schwanken. Daher rührte meine Entschlossenheit weiterzugehen. Ich wurde nicht enttäuscht, da ich immer vom
Schlimmsten ausging. Es gab Nächte, in denen ich nicht
schlafen konnte und in die Dunkelheit starrte, bis meine Augen klar sahen. Ich dachte daran, wo meine Familie wohl sein mochte und ob sie noch lebte.
Eines Abends saß ich draußen auf einem Dorfplatz und
dachte darüber nach, wie weit ich gekommen war und was
wohl noch vor mir lag. Ich blickte in den Himmel und sah, wie dichte Wolken den Mond zu verdecken drohten, doch er
tauchte immer und immer wieder auf und schien die ganze
Nacht hindurch. In gewisser Hinsicht war meine Reise wie
die des Mondes – nur dass ich es mit noch dichteren Wolken zu tun hatte, die mir die Seele verdüsterten. Ich erinnerte
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