Rueckkehr ins Leben
der Bus und der Kontrolleur stand an der Tür, damit niemand ohne zu
bezahlen aussteigen konnte. Ich ging mit der Hand in der
Tasche auf ihn zu, als wollte ich Geld herausziehen. Dann stieß ich ihn zur Seite und wir rannten lachend davon. Er lief uns ein kleines Stück hinterher, gab dann aber auf. An jenem Abend erzählten wir den anderen Jungen von den Hochhäusern in der Stadt, von dem Lärm, den Autos und den Märk-
ten. Danach waren alle ganz aus dem Häuschen und wollten
auch in die Stadt. Die Mitarbeiter hatten keine Wahl und
mussten Wochenendausflüge ins Stadtzentrum organisieren,
damit wir nicht mehr alleine hinfuhren. Aber manchen von
* kohlensäurehaltiges Erfrischungsgetränk, aus dem Saft von Trauben, Himbeeren und schwarzen Johannisbeeren hergestellt
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uns, die öfter als einmal die Woche in die Stadt wollten, ge-nügte das nicht.
Ich weiß nicht, was passiert war, aber aus irgendeinem
Grund wollten die Leute unsere Schulmaterialien plötzlich nicht mehr kaufen. Auch als wir sie billiger anboten, fanden wir keine Käufer mehr. Da wir keine anderen Möglichkeiten hatten, um an Geld zu kommen, konnten wir nicht mehr
alleine in die Stadt fahren, jedenfalls nicht mehr so häufig, wie wir wollten. Außerdem war der Unterrichtsbesuch Voraussetzung für die Teilnahme an den Ausflügen in die Stadt.
Deshalb gingen wir jetzt in die Schule.
Es war keine formelle Schule. In Mathematik lernten wir
addieren, multiplizieren und dividieren. In Englisch lasen wir Abschnitte aus Büchern, lernten Wörter zu buchstabieren.
Manchmal las der Lehrer laut Geschichten vor und wir mussten sie in unsere Hefte mitschreiben. Das sei eine Möglichkeit, »unsere Erinnerung aufzufrischen«, meinte der Lehrer.
Wir passten im Unterricht nicht auf. Wir waren nur anwe-
send, damit wir die Ausflüge in die Stadt nicht verpassten.
Während des Unterrichts kämpften wir, stachen uns gegen-
seitig mit Bleistiften in die Hände. Der Lehrer machte un-beirrt weiter, und irgendwann gaben wir das Kämpfen auf.
Dann fingen wir an, über die Schiffe zu sprechen, die wir vom Ufer in Kroo Bay aus gesehen hatten, den Hubschrau-ber, der über die Lightfoot Boston Street geflogen war, während wir unten gelaufen waren. Am Ende des Unterrichts
sagte der Lehrer: »Es ist nicht eure Schuld, dass ihr im Unterricht nicht still sitzen könnt. Das wird schon noch kommen.«
Das machte uns wütend, und wir warfen ihm Bleistifte hin-
terher, als er den Raum verließ.
Später aßen wir zu Mittag und spielten dann Tischtennis
oder Fußball. Doch nachts wachten einige von uns schweißgebadet und schreiend aus Albträumen auf und schlugen sich
selbst auf die Köpfe, um die Bilder zu vertreiben, die uns weiter quälten, auch wenn wir schon gar nicht mehr schliefen.
Andere wachten auf und würgten denjenigen, der im Bett neben ihnen lag; wenn sie zurückgehalten wurden, rannten sie in die Nacht davon. Die Mitarbeiter waren ständig auf der Hut 171
und versuchten, diese vereinzelten Ausbrüche zu unterbinden.
Trotzdem fand man jeden Morgen einige von uns, die sich im Gras neben dem Fußballplatz versteckten. Wir konnten uns
nicht erinnern, wie wir dorthin gekommen waren.
Es dauerte mehrere Monate, bis ich allmählich wieder
lernte, ohne Medikamente einzuschlafen. Selbst wenn ich es endlich geschafft hatte einzuschlafen, schreckte ich eine knappe Stunde später wieder hoch. Ich träumte, dass mich
ein gesichtsloser Bewaffneter gefesselt hatte und mir mit der gezackten Klinge seines Bajonetts die Kehle aufschlitzte. Ich spürte den Schmerz, den das Messer verursachte, während
mir der Mann den Hals durchschnitt. Ich wachte schweißge-
badet auf und boxte in die Luft. Dann rannte ich raus auf den Fußballplatz und wiegte mich vor und zurück, die Arme um
die Beine geschlungen. Ich versuchte verzweifelt, an meine Kindheit zu denken, aber es gelang mir nicht. Die Kriegserinnerungen bildeten eine Barriere, die ich überwinden
musste, bevor ich auch nur an irgendeinen Moment meines
Lebens vor dem Krieg denken konnte.
Die Regenzeit in Sierra Leone dauert von Mai bis Oktober, wobei die heftigsten Regenfälle im Juli, August und Septem-ber zu erwarten sind. Meine Einheit hatte den Stützpunkt
verloren, an dem wir trainiert hatten, Moriba war bei den Kämpfen umgekommen. Wir ließen ihn an einer Wand sitzen – während noch Blut aus seinem Mund trat – und dach-
ten danach kaum noch an ihn. Trauer um die Toten gehörte
nicht zum
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