Rueckkehr ins Leben
»Vielleicht nicht.«
Ich schwieg eine Weile, da ich nicht wusste, was ich sagen sollte und zu diesem Zeitpunkt in meinem Leben niemandem
vertraute. Ich hatte gelernt zu überleben und auf mich selbst aufzupassen. Das hatte ich den Großteil meines kurzen Lebens über gemacht, ohne dass es jemanden gegeben hatte,
dem ich vertraut hatte. Und ehrlich gesagt war ich gerne alleine, denn das erleichterte das Überleben. Leute wie der Lieutenant, dem ich gehorcht und vertraut hatte, hatten mich gelehrt, allen zu misstrauen, besonders Erwachsenen. Ich
zweifelte an den Absichten der Menschen. Ich war zu dem
Schluss gekommen, dass Menschen nur Freundschaft schlos-
sen, um einander auszunutzen. Deshalb ignorierte ich die
Schwester und starrte aus dem Fenster.
»Ich bin deine Krankenschwester, nichts weiter. Wenn du
mit mir befreundet sein möchtest, dann musst du mich darum 177
bitten. Und zuerst muss ich dir vertrauen können«, sagte sie.
Ich lächelte, denn ich dachte genauso. Zunächst war sie verdutzt wegen des plötzlichen Lächelns. Aber dann sagte sie:
»Du hast ein tolles Lächeln, du solltest öfter lächeln.« Ich hör-te sofort damit auf und machte ein ernstes Gesicht.
»Willst du irgendwas aus der Stadt?«, fragte sie, aber ich antwortete nicht.
»Das ist dann alles für heute«, sagte sie.
Ein paar Tage nach dieser ersten Unterhaltung gab mir die Schwester ein Geschenk. Ich sah zu, wie ein paar Jungen ein Volleyballnetz über den Hof spannten. Alhaji kehrte von seiner Sitzung in der Krankenstation zurück und erzählte mir, Schwester Esther habe gesagt, ich solle zu ihr kommen. Ich wollte das Volleyballspiel sehen, aber Alhaji zog mich hoch und ließ mich nicht los, bis wir an der Tür der Krankenstation standen. Dann schubste er mich hinein und rannte
kichernd davon. Vom Boden aus sah ich hoch und entdeckte
Esther, die lächelnd an ihrem Schreibtisch saß.
»Alhaji meinte, Sie wollten mich sehen«, sagte ich und
rappelte mich auf.
Sie warf mir ein Päckchen zu. Ich hielt es in der Hand,
fragte mich, was es sein mochte und warum sie es mir gekauft hatte. Sie sah mich an und wartete, dass ich es öffnete. Als ich es ausgepackt hatte, sprang ich auf und fiel ihr um den Hals, unterdrückte aber sogleich wieder meine Freude und fragte sie ernst: »Weshalb haben Sie mir den Walkman und die Kassette geschenkt, wenn wir keine Freunde sind? Und woher
wissen Sie, dass ich Rapmusik mag?«
»Bitte setz dich«, sagte sie, nahm mir das Päckchen ab, legte die Batterie und die Kassette in den Walkman ein und gab ihn mir. Ich setzte die Kopfhörer auf und hörte Run DMC:
»It’s like that, and that’s the way it is …« Ich fing an, im Takt mit dem Kopf zu nicken, dann nahm mir Esther die Kopfhö-
rer von den Ohren und sagte: »Ich muss dich untersuchen,
während du Musik hörst.« Ich war einverstanden, zog mein
T-Shirt aus, stellte mich auf eine Waage, ließ sie meine Zunge prüfen und mir mit einer Taschenlampe in die Augen
leuchten … All das machte mir nichts aus, weil das Lied Be-178
sitz von mir ergriffen hatte und ich genau auf jedes Wort lauschte. Aber als sie meine Beine untersuchte und die Narben an meinem linken Schienbein entdeckte, nahm sie mir
wieder die Kopfhöher ab und fragte: »Woher stammen diese
Narben?«
»Schussverletzungen«, erwiderte ich beiläufig.
Ein trauriger Ausdruck trat in ihr Gesicht und ihre Stimme zitterte, als sie sagte: »Du musst mir erzählen, was passiert ist, damit ich dir die richtige Medizin verschreiben kann.«
Zunächst wollte ich nicht, aber sie behauptete, sie könne mich nur sinnvoll behandeln, wenn ich ihr berichtete, was passiert war, insbesondere auch, wie meine Schussverletzungen behandelt worden waren. Also erzählte ich die ganze
Geschichte, wie ich angeschossen worden war. Das tat ich
nicht, weil ich es wollte, sondern weil ich hoffte, dass sie Angst vor mir bekäme und mit der Fragerei aufhören würde, wenn ich ihr ein bisschen von der grausamen Wirklichkeit
meiner Kriegsjahre erzählte. Sie hörte aufmerksam zu, als ich zu reden begann. Ihre Augen blickten mich unverwandt an
und ich senkte den Kopf, während ich mich in meine jüngste Vergangenheit zurückfallen ließ.
In der zweiten Trockenperiode seit meinem Eintritt in die Armee wurden unsere Lebensmittel und die Munition knapp.
Wie gewöhnlich in solchen Fällen beschlossen wir, ein Dorf zu überfallen. Zunächst zog ich also mit meiner Einheit los, um eines
Weitere Kostenlose Bücher