Rueckkehr ins Leben
die Finger in die Ohren, damit ich nicht hören konnte, wie sie sagte: »Es ist nicht deine Schuld.«
In jener Nacht saß ich auf der Veranda und hörte zu, wie
einige der Jungen über das Volleyballspiel sprachen, das ich verpasst hatte. Ich versuchte, an meine Kindheit zu denken, 185
aber das war unmöglich, denn Erinnerungen an den Mo-
ment, in dem ich zum ersten Mal einem Mann die Kehle
aufgeschlitzt hatte, stiegen plötzlich in mir hoch. Die Szene tauchte immer wieder wie ein Blitz in einer dunklen regneri-schen Nacht in meiner Erinnerung auf, und jedes Mal, wenn das passierte, vernahm ich einen schrillen Schrei in meinem Kopf, der mir durch Mark und Bein fuhr. Ich ging hinein
und setzte mich mit dem Gesicht zur Wand aufs Bett und
versuchte, mit dem Denken aufzuhören, aber an jenem
Abend hatte ich eine heftige Migräne. Ich rollte mit dem
Kopf auf dem kalten Steinboden hin und her, aber sie ließ nicht nach. Ich ging in den Duschraum und hielt den Kopf
unter kaltes Wasser, doch auch das half nicht. Der Kopf-
schmerz wurde so stark, dass ich nicht mehr gehen konnte.
Ich fing an, laut zu weinen. Die Nachtschwester wurde gerufen. Sie gab mir Schlaftabletten, aber ich konnte trotzdem nicht einschlafen, auch nicht, als meine Migräne irgendwann doch aufgehört hatte. Ich war den Albträumen, von denen
ich wusste, dass sie kommen würden, nicht gewachsen.
Esther brachte mich dazu, ihr einige meiner Träume zu
erzählen. Sie hörte einfach zu und saß still bei mir. Wenn sie etwas sagen wollte, dann fragte sie vorher: »Möchtest du, dass ich dir etwas über deinen Traum sage?« Meistens verneinte ich und verlangte einfach nur meinen Walkman.
Eines Nachmittags, als Esther keinen Dienst hatte, kam sie trotzdem ins Center, im Jeansrock statt in ihrer normalen weißen Uniform. Sie kam mit zwei Männern in einem wei-
ßen Toyota angefahren. Einer der Männer war der Fahrer,
und der andere war Mitarbeiter von Children Associated with the War (CAW). Das war eine katholische Organisation, die in Zusammenarbeit mit UNICEF und NGOs Zentren wie
unseres betrieb.
»Wir fahren ins Krankenhaus zur Untersuchung und da-
nach machen wir eine Stadtrundfahrt.« Esther war ganz aufgeregt. »Was hältst du davon?«, fragte sie mich.
»Okay«, willigte ich ein. Ich fand es immer spannend, in
die Stadt zu fahren. »Darf mein Freund Alhaji mitkommen?«
fragte ich.
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»Sicher«, sagte sie, als hätte sie gewusst, dass ich sie darum bitten würde.
Als wir nach Freetown fuhren, stellte sich der andere Mitarbeiter vor: »Mein Name ist Leslie, sehr erfreut, euch kennen zu lernen, meine Herren.« Er drehte sich auf dem Vordersitz um und schüttelte uns beiden die Hand. Er lehnte sich wieder zu-rück und musterte uns im Rückspiegel. Esther saß zwischen Alhaji und mir auf dem Rücksitz. Sie kitzelte mich und legte ab und zu die Arme um uns. Ich wehrte mich gegen diese
Form der Zuneigung, weshalb sie beide Arme um Alhaji legte.
Ich sah weg, woraufhin sie mich sanft mit dem Ellbogen stupste, bevor sie ihren Arm auch wieder um mich legte.
In der Innenstadt zeigte uns Esther das Postgebäude, ver-
schiedene Läden, das UN-Gebäude und den Cotton Tree.
Auf der Wallace Johnson Street spielten die Händler laut Musik und läuteten Glocken, um Kunden anzulocken. Jungen
und Mädchen mit Kühlboxen auf den Köpfen riefen: »Eis,
leckeres Eis, erfrischend und kalt …« und »kaltes Ingwerbier
…«. Die Stadt verblüffte mich stets aufs Neue mit ihren geschäftigen Menschen, die hin und her eilten, und mit den
Händlern, die lautstark eine einzigartige Geräuschkulisse schu-fen. Ich beobachtete gerade einen von ihnen, der eine Glocke läutete und die gebrauchte Kleidung, die er verkaufte, in die Luft warf, um Passanten anzulocken, als unser Wagen vor dem Krankenhaus hielt, in dem ich untersucht werden sollte.
Der Arzt fragte immer wieder: »Spürst du was?«, während
er die Stellen meines Körpers berührte und drückte, an denen ich verwundet oder angeschossen worden war. Mir verging
schon langsam die Lust daran, als er meinte, er sei fertig. Ich zog meine Sachen an und ging in den Wartebereich, wo
Esther, Leslie und Alhaji saßen. Sie lächelten, und Esther kam zu mir und zog mich an der Nase, um mich aufzumuntern.
Wir schlenderten über den Markt, an dem wir vorbeigefahren waren. Den Großteil der Zeit verbrachte ich damit, ein Kas-settenregal an einem Kiosk unter die Lupe zu nehmen. Esther und Alhaji sahen
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