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Rueckkehr ins Leben

Rueckkehr ins Leben

Titel: Rueckkehr ins Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ishmael Beah
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»Wo
    du auch immer hinfährst, du musst nach Zuhause riechen.
    Das ist mein Parfüm für dich.« Sie lachte und trat zurück.
    Mein Onkel stand auf und umarmte mich, legte mir den Arm
    um die Schulter und sagte: »Meine guten Wünsche begleiten dich. Wir sehen uns dann beim Abendessen.« Er setzte sich wieder auf seinen Stuhl auf der Veranda.

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    Meine Vorstellung von New York hatte ich der Rapmusik zu
    verdanken. Vor meinem geistigen Auge sah ich eine Stadt, in der sich die Leute auf offener Straße erschossen, was keinen sonderlich störte. Niemand ging zu Fuß durch die Straßen, die Menschen fuhren vielmehr in Sportwagen herum auf der
    Suche nach Nachtclubs und Gewalt. Ich freute mich gar
    nicht, an einen solch verrückten Ort zu fahren. Davon hatte ich zu Hause genug gehabt.
    Es war dunkel, als das Flugzeug auf dem John F. Kennedy
    International Airport landete. Es war halb fünf am Nachmittag. Ich fragte Dr. Tamba, weshalb es in diesem Land schon so früh dunkel wurde. »Weil Winter ist«, sagte er. »Oh!«, nickte ich, obwohl mir die frühe Dunkelheit noch immer
    nicht einleuchtete. Ich kannte das Wort »Winter« aus Texten von Shakespeare und dachte mir, ich sollte mal wieder die Bedeutung nachschlagen.
    Dr. Tamba nahm unsere Reisepässe und übernahm das
    Reden am Einwanderungsschalter. Wir bekamen unsere
    Taschen und gingen auf die automatischen Schiebetüren zu.
    Vielleicht sollten wir nicht einfach so auf die Straße hinaus-gehen, dachte ich, aber Dr. Tamba war schon draußen. Als
    Bah und ich durch die Schiebetüren traten, wurden wir von einem schneidend kalten Wind in Empfang genommen.
    Meine Haut spannte sich, ich konnte mein Gesicht nicht
    mehr spüren, und mir kam es vor, als wären meine Ohren
    bereits abgefallen. Meine Finger schmerzten und meine
    Zähne klapperten. Der Wind pfiff mir durch die Sommer-
    hose und mein T-Shirt, und ich hatte ein Gefühl, als hätte ich gar nichts an. Zitternd rannte ich in den Terminal zu-224
    rück. In meinem ganzen Leben war mir noch nie so kalt
    gewesen. Wie konnte man in diesem Land nur überleben?,
    dachte ich, rieb meine Hände aneinander und hüpfte he-
    rum, damit mir wärmer wurde. Bah stand draußen bei
    Dr. Tamba, hatte die Arme um sich geschlungen und bib-
    berte hemmungslos. Aus irgendeinem Grund hatte
    Dr. Tamba eine Jacke, Bah und ich aber nicht. Ich wartete im Terminal, bis Dr. Tamba ein Taxi heranwinkte, dann
    rannte ich nach draußen, sprang hinein und schloss rasch die Tür hinter mir. Kleine weiße Teilchen fielen vom Himmel
    und schienen sich am Boden zu sammeln. Was war das für
    ein weißes Zeug, das vom Himmel fiel, fragte ich mich.
    Dr. Tamba nannte dem Fahrer unseren Zielort, den er von
    einem Zettel in seiner Hand ablas.
    »Seid ihr zum ersten Mal in der Stadt, und gefällt euch der wunderschöne Schnee?«, fragte der Taxifahrer.
    »Ja, sie sind zum ersten Mal in der Stadt«, erwiderte
    Dr. Tamba und verstaute unsere Dokumente. Das Wort
    »Schnee« hatte ich noch nie gehört. Schnee ist kein Thema, über das man in Sierra Leone spricht. Aber ich hatte Filme über Weihnachten gesehen, und dieses weiße fluffige Zeug
    war auch darin vorgekommen. Hier muss jeden Tag Weih-
    nachten sein, dachte ich.
    Als wir in die Stadt kamen, schien es, als hätte jemand die vielen hohen Häuser angeknipst, die in den Himmel ragten.
    Von weitem sahen einige der Gebäude aus, als bestünden sie aus vielen bunten Lichtern. Die Stadt glitzerte, und ich war so vollkommen überwältigt, dass ich mich gar nicht entscheiden konnte, wo ich zuerst hinsehen sollte. Ich dachte, ich hätte Hochhäuser in Freetown gesehen, aber diese hier waren höher als hoch, es schien, als würden sie den Himmel berühren. Auf den Straßen waren viele Autos, die ungeduldig hupten, obwohl die Ampel rot war. Und dann sah ich die Men-
    schen auf den Bürgersteigen. Ich rieb mir die Augen, weil ich sicher sein wollte, dass ich da wirklich Menschen auf den Straßen von New York sah. Es war offenbar gar nicht so ge-fährlich, wie ich gehört hatte. Jedenfalls bis jetzt noch nicht.
    Die Lichter schienen heller als bei uns zu Hause und ich hielt 225
    Ausschau nach den Strommasten, an denen die Kabel hingen, aber ich konnte keine entdecken.
    Wir trafen im Vanderbilt YMCA-Hotel auf der Forty-
    Seventh Street ein und betraten die Lobby mit unserem Ge-
    päck. Wir folgten Dr. Tamba an den Empfangstresen und
    bekamen unsere Zimmerschlüssel ausgehändigt. Ich hatte
    zum ersten Mal im Leben

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