Rueckkehr ins Leben
ein Zimmer für mich allein. Damit nicht genug, es gab dort auch noch einen Fernseher, und ich sah die ganze Nacht lang fern. Es war wirklich warm im
Zimmer, weshalb ich mich auszog und vor dem Fernseher
schwitzte. Zwei Tage später erfuhr ich, dass es im Zimmer so heiß war, weil jemand die Heizung aufgedreht hatte. Ich
wusste nicht, wie eine Heizung aussah, schon gar nicht, wie man sie hoch- oder runterdrehte. Ich erinnere mich, dass ich darüber nachdachte, wie seltsam dieses Land war: Draußen
war es sehr kalt und drinnen sehr heiß.
Am Morgen nach unserer Ankunft ging ich runter in die
Cafeteria, wo siebenundfünfzig Kinder aus dreiundzwanzig
Ländern darauf warteten, zu frühstücken und das erste internationale Kinderparlament der Vereinten Nationen zu eröff-nen. Da waren Kinder aus dem Libanon, aus Kambodscha,
dem Kosovo, Brasilien, Norwegen, Jemen, Mosambik, Paläs-
tina, Guatemala, den Vereinigten Staaten, Südafrika, Peru, Nordirland, Indien, Papua-Neuguinea und Malawi, um nur
einige wenige zu nennen. Als ich mich nach Bah und
Dr. Tamba umsah, zog mich eine weiße Frau beiseite und
stellte sich vor.
»Mein Name ist Kristen. Ich komme aus Norwegen.« Sie
streckte mir die Hand entgegen.
»Ich bin Ishmael aus Sierra Leone.« Ich gab ihr die Hand, und sie öffnete einen Umschlag mit Namensschildern und
befestigte eins an meinem Hemd. Sie lächelte und machte mir ein Zeichen, dass ich mich in die Frühstücksschlange stellen solle, während sie weiter nach Kindern suchte, die noch kein Namensschild hatten. Ich folgte zwei Jungen, die eine fremde Sprache sprachen. Sie wussten genau, was sie wollten, aber ich hatte keine Ahnung, was ich mir holen sollte oder wie die verschiedenen Speisen überhaupt hießen, die die Köche zu-226
bereitet hatten. Während meines gesamten Aufenthalts ver-
wirrte mich das Essen immer wieder. Ich bestellte meist einfach »dasselbe« oder tat mir das auf den Teller, was ich auf den Tellern der anderen gesehen hatte. Manchmal hatte ich Glück und mir schmeckte, was auf meinem Teller gelandet
war. Meistens jedoch war das nicht der Fall. Ich fragte
Dr. Tamba, wo ich Reis und Fisch in Palmöl, Maniokblätter oder Okrasuppe kriegen könnte. Er lächelte und sagte:
»Wenn du in Rom bist, mach’s wie die Römer.«
Ich hätte mir Essen von zu Hause mitbringen sollen, um
über die Runden zu kommen, bis ich das Essen in diesem
Land besser kannte, dachte ich und trank meinen Orangensaft.
Nach dem Frühstück liefen wir zwei Straßenecken weit
durch das eiskalte Wetter zu dem Gebäude, in dem die meisten Treffen stattfanden. Draußen schneite es noch immer,
und ich trug Sommerschuhe und ein langärmeliges Hemd. In
einem solch unfreundlichen und kalten Land, in dem ich
ständig aufpassen musste, dass mir weder Nase, Ohren noch das Gesicht abfroren, wollte ich nicht leben, sagte ich mir.
An jenem ersten Morgen in New York erfuhren wir viele
Stunden lang etwas über das Leben der verschiedenen Teil-
nehmer. Einige Kinder waren unter Lebensgefahr zur Konfe-
renz gekommen. Andere waren Hunderte von Kilometern in
Nachbarländer gelaufen, um ein Flugzeug besteigen zu kön-
nen. Nach nur wenigen Minuten wussten wir, dass der Raum
voller junger Menschen war, die alle eine sehr schwierige Kindheit hinter sich hatten – und viele von ihnen kehrten nach Beendigung der Konferenz in dieses Leben zurück.
Nachdem wir uns alle vorgestellt hatten, setzten wir uns in einen Kreis, sodass die verschiedenen Vermittler von sich erzählen konnten.
Die meisten Vermittler arbeiteten im Auftrag von NGOs,
aber es war auch eine kleine weiße Frau mit langen dunklen Haaren und strahlenden Augen dabei, die sagte: »Ich bin Geschichtenerzählerin.« Das überraschte mich, deshalb hörte ich ihr aufmerksam zu. Sie machte ausladende Gesten und sprach sehr deutlich, artikulierte jedes Wort sehr genau. Sie sagte, ihr Name sei Laura Simms. Sie stellte ihre Kollegin vor, Therese 227
Plair, die hellhäutig war, aber afrikanische Gesichtszüge hatte, und die eine Trommel in der Hand hielt. Noch bevor Laura
fertig war, hatte ich bereits beschlossen, an ihrem Workshop teilzunehmen. Sie würde uns beibringen, wie wir unsere Geschichten spannender erzählen konnten, erklärte sie uns. Ich war neugierig zu erfahren, wie diese weiße Frau, die in New York geboren worden war, Geschichtenerzählerin geworden
war.
An jenem Morgen sah auch Laura immer wieder nach Bah
und mir. Ich wusste nicht, dass
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