Rueckkehr ins Leben
zu kommen und mit den
Vorbereitungen für die Reise zu beginnen?«, fragte er auf Englisch. Seit Mister Kamara erfahren hatte, dass ich die Vereinten Nationen besuchen sollte, sprach er nur noch Englisch mit mir. Ich verabschiedete mich von meiner Tante, sprang in den Wagen, und wir fuhren los, um mir einen Reisepass
zu besorgen. Es schien, als wollte an jenem Tag jeder in der Stadt einen Reisepass beantragen. Zum Glück hatte Mister
Kamara einen Termin ausgemacht, deshalb mussten wir nicht in der Schlange warten. Am Tresen legte er mein Foto vor, die notwendigen Formulare und die Gebühr. Ein Mann mit
einem runden Gesicht sah die Papiere sorgfältig durch und verlangte meine Geburtsurkunde. »Sie müssen beweisen, dass Sie in diesem Land geboren sind«, sagte der Mann. Ich wurde wirklich wütend und hätte dem Mann beinahe eine herun-tergehauen, weil er immer noch darauf beharrte, auch nachdem ich ihm bereits erklärt hatte, dass keine Zeit bliebe, um Dokumente zusammenzusuchen, wenn einen der Krieg überfällt. Er bestand darauf, dass ich beweisen müsse, in Sierra Leone geboren zu sein. Er hatte sehr naive Vorstellungen von 219
der Wirklichkeit, die ich ihm begreiflich zu machen versuchte. Mister Kamara zog mich beiseite und bat mich ruhig, auf einer Bank Platz zu nehmen und zu warten, während er mit
dem Mann sprach. Zum Schluss verlangte er, dessen Vorge-
setzten zu sehen. Nach stundenlangem Warten war es jeman-
dem gelungen, eine Kopie meiner Geburtsurkunde aufzutrei-
ben, und Mister Kamara wurde mitgeteilt, er solle vier Tage später kommen und den Reisepass abholen.
»Der erste Schritt ist getan. Jetzt besorgen wir dir ein Vi-sum«, sagte Mister Kamara, als wir das Amt verließen. Ich antwortete ihm nicht, denn ich war immer noch verärgert,
erschöpft und wollte einfach nur nach Hause.
Mein Onkel war bereits da, als ich an jenem Abend abge-
setzt wurde. Bei unserer Begrüßung bedeutete mir das Lä-
cheln in seinem Gesicht: »Sag schon, was los ist!« Das tat ich.
Ich erzählte ihm, ich solle zu den Vereinten Nationen nach New York geschickt werden, um über den Krieg zu berichten und darüber, was er für Kinder bedeutet. Doch mein
Onkel glaubte mir nicht. »Die Leute geben immer leere Ver-sprechungen. Mach dir bloß keine allzu großen Hoffnungen, mein Sohn«, sagte er.
Jeden Morgen, bevor er zur Arbeit ging, sagte er scherz-
haft: »Und was machst du heute für deine Amerikareise?«
Mister Kamara fuhr mit mir einkaufen. Er kaufte mir ei-
nen Koffer und ein paar Kleidungsstücke, hauptsächlich lang-
ärmelige Hemden, Stoffhosen und traditionelle bunte Anzüge aus gewachster Baumwolle mit aufwändigen Stickereien auf
Kragen, Ärmeln und am Saum der Hosen. Ich zeigte meinem
Onkel die Sachen, aber noch immer glaubte er nicht, dass ich verreisen würde.
»Vielleicht wollen sie dir nur einen neuen Look verpassen, einen afrikanischen Look, damit du nicht immer diese weiten Hosen trägst«, lachte er.
Manchmal ging ich mit meinem Onkel nach der Arbeit
spazieren. Dann fragte er mich, wie es mir ging. Ich sagte immer, es gehe mir gut. Er legte seine langen Arme um mich und zog mich dichter an sich heran. Ich hatte das Gefühl, dass er wusste, dass ich ihm bestimmte Dinge zwar erzählen woll-220
te, aber nicht die richtigen Worte dafür fand. Ich hatte ihm nicht gesagt, dass immer dann, wenn ich mit meinen Cousinen zum Feuerholzholen in den Busch ging, meine Gedan-
ken in die Vergangenheit drifteten zu Dingen, die ich gesehen oder getan hatte. Wenn ich neben einem Baum mit ge-
trocknetem roten Harz auf der Rinde stand, blitzte die Erinnerung an die vielen Male auf, die wir Gefangene exekutiert hatten, indem wir sie an Bäume gefesselt und erschossen hatten. Ihr Blut war über die Bäume geflossen und es wurde nie abgewaschen, auch nicht in der Regenzeit. Ich hatte ihm
auch verschwiegen, dass mich ganz Alltägliches im Zusam-
menleben einer Familie – ein Kind, das seinen Vater umarmt, sich an das Tuch seiner Mutter klammert oder die Hände
beider Eltern hält und sich über einen Rinnstein heben lässt –
an all das erinnerte, was ich verloren hatte. Es weckte in mir den Wunsch, noch einmal zum Anfang zurückzukehren und
alles zu verändern.
Man hatte mir gesagt, ich solle am Montag einen Mann
namens Dr. Tamba in der amerikanischen Botschaft treffen.
Als ich am Morgen zur Botschaft ging, lauschte ich der all-mählich erwachenden Stadt. Die Gebetsrufe von der zentra-
len
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