Rueckkehr ins Leben
träumen. Als wir später an jenem Abend ins Hotel zurückkehrten, erzählten wir den
anderen Kindern, was wir gesehen hatten. Danach gingen wir alle zusammen jeden Abend an den Times Square.
Madoka und ich waren schon vor der geplanten Stadt-
rundfahrt zu einigen Sehenswürdigkeiten der Stadt losgezogen. Wir waren am Rockefeller Plaza gewesen, wo wir den
riesigen geschmückten Weihnachtsbaum, Engelsstatuen und
Leute beim Schlittschuhlaufen gesehen hatten. Sie fuhren
immer im Kreis, und Madoka und ich konnten nicht begrei-
fen, weshalb ihnen das Spaß machte. Wir waren außerdem
mit Mr. Wright, einem Kanadier, den wir im Hotel kennen
gelernt hatten, zum World Trade Center gegangen. Eines
Abends, als wir alle siebenundfünfzig auf dem Weg zum
South Street Seaport in die U-Bahn stiegen, fragte ich Madoka: »Wieso sind denn alle so still?« Er sah sich im Zug um und meinte: »Die öffentlichen Verkehrsmittel sind hier anders als zu Hause.« Shantha, die Kamerafrau, die uns bei dieser Gelegenheit filmte und die später meine Tante wurde, als ich nach New York zurückkehrte, um dort zu leben, hielt die Kamera auf uns gerichtet, und Madoka und ich ließen uns von ihr
filmen. Bei jedem Ausflug notierte ich mir in Gedanken, was ich meinem Onkel, meinen Cousins und Cousinen und Mohamed erzählen wollte. Ich erwartete nicht, dass sie mir irgendetwas davon glauben würden.
Am letzten Tag der Konferenz sprach jeweils ein Kind pro
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Land kurz vor dem Wirtschafts- und Sozialrat der UNO
(ECOSOC) über seine jeweiligen Erfahrungen. Da waren
Diplomaten und allerhand einflussreiche Leute. Sie trugen Anzüge und Krawatten, saßen aufrecht da und hörten uns zu.
Ich saß stolz hinter einem Schild, auf dem Sierra Leone stand, hörte zu und wartete, bis ich an der Reihe war. Ich hatte eine Rede dabei, die man in Freetown für mich geschrieben hatte, aber ich überlegte es mir anders und erzählte stattdessen, was mir auf dem Herzen lag. Ich schilderte kurz meine Erfahrungen und sprach von meiner Hoffnung, dass der Krieg bald zu Ende sei – denn nur so würden Erwachsene aufhören, Kinder als Soldaten zu rekrutieren. Ich begann mit den Worten: »Ich komme aus Sierra Leone, und dort ist der Krieg das Problem, das uns Kindern zu schaffen macht. Der Krieg ist schuld daran, dass wir unser Zuhause und unsere Familien verlieren und dass wir ziellos durch die Wälder streifen. Das führt dazu, dass wir als Soldaten, Träger und auf viele andere Arten gezwungen werden, am Krieg teilzunehmen. Der Grund hierfür ist, dass wir Hunger leiden, keine Familien mehr haben, uns aber nach Sicherheit sehnen und zu irgendetwas dazugehören wollen, wenn alles andere auseinandergebrochen ist. Ich bin der Armee beigetreten, weil ich meine Familie verloren und ge-hungert habe. Ich wollte den Tod meiner Familie rächen.
Außerdem brauchte ich Lebensmittel, um zu überleben, und
die einzige Möglichkeit, an Essen zu kommen, war, in die
Armee zu gehen. Es war nicht leicht, Soldat zu sein, aber wir hatten keine Wahl. Ich bin jetzt rehabilitiert, also habt keine Angst vor mir. Ich bin kein Soldat mehr. Ich bin ein Kind.
Wir sind alle Brüder und Schwestern. Aus meiner Erfahrung habe ich gelernt, dass Rache nichts Gutes ist. Ich bin der Armee beigetreten, weil ich den Tod meiner Familie rächen
und überleben wollte, aber ich habe gelernt, dass, wenn ich Rache üben will, ich jemanden töten muss, dessen Familie
ihrerseits Rache fordern wird: Auf diese Weise nimmt die
Rache niemals ein Ende …«
Nachdem wir alle gesprochen hatten, sangen wir zusam-
men ein Lied, das wir uns ausgedacht hatten. Dann sangen
wir andere Lieder, weinten, lachten und tanzten. Es war ein 231
außerordentlich bewegender Nachmittag. Wir waren alle
traurig, Abschied voneinander nehmen zu müssen, zumal wir ja wussten, dass wir nicht an friedliche Orte zurückkehrten.
Madoka und ich legten die Arme umeinander und hüpften
zur Musik herum. Bah tanzte mit einer anderen Gruppe von
Jungen. Dr. Tamba saß im Publikum und lächelte das erste
Mal seit unserer Ankunft in New York. Nach dem Tanz
nahm mich Laura beiseite und sagte, meine Worte hätten sie sehr bewegt.
An jenem Abend gingen wir indisch essen, und ich war
glücklich darüber, dass es auch in diesem Teil der Welt Reis gab. Wir aßen sehr viel, plauderten, tauschten Adressen aus und fuhren dann ins East Village zu Laura nach Hause. Ich begriff nicht, weshalb sie die Gegend als Dorf bezeichnete, denn es
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