Rückkehr nach Kenlyn
der Zahn der Zeit auf der steinernen Haut gelassen hatte.
Das Monument der Prophetin hockte im Lotussitz mitten in der grauen Wüste: Es war die gigantische Ausgabe der Statue Xal-Namas, die Xeahs größten Schatz bildete. Obwohl Endriel sich ziemlich sicher war, damit ein mittelschweres Sakrileg begangen zu haben, hatte sie die Korona auf Xal-Namas Steinhänden landen lassen, die wiederum auf dem Schoß der massigen Draxyll lagen und eine Plattform bildeten, von der aus zwei massive Treppen an den Krallenfüßen vorbei die zehn Meter hohe Empore hinabführten, auf der die Prophetin ruhte. Sie stellte sich vor, wie im Strahlenden Zeitalter, und lange davor, Scharen von Pilgern diese Treppen hinaufmarschiert waren und sich auf der Plattform versammelt hatten – und fast glaubte sie, im Heulen des Windes ein Echo von Gebeten und Gesängen aus Jahrhunderten zu hören.
»Ist sie hier geboren?«, fragte sie.
Xeah klang schwach und winzig, als sie antwortete: »Nein. Es ist ihre Grabstätte. Sie war auf dem Pilgerpfad zum Grünen Berg, weiter im Süden, als sie starb – hier, genau an dieser Stelle.« Ihre Stimme stand kurz davor zu brechen. »Die Priesterschaft ... die Priesterschaft hatte damals versucht, das alles hier mit nach Kenlyn zu evakuieren. Aber Rokor hatte sich bereits zu weit ausgebreitet ...«
Keine vier Meter von der Korona entfernt, dicht an den Bauch der Prophetin geschmiegt, gab es einen winzigen Schrein, nicht größer als einen Gartenschuppen, aus massivem, roten Stein gebaut, mit einem geschwungenen Dach aus schwarzen Ziegeln.
Natürlich hatte auch Xeah das Bauwerk längst gesehen, und ihr Blick spiegelte mehr als nur Ehrfurcht wider. War es Angst? Endriel konnte es nicht sagen. Sie half ihrer Freundin, sich aufzurichten.
»Ich – ich weiß nicht, ob ich das kann ...« Xeahs Griff versteifte sich um Endriels Hand.
»Wovor fürchtest du dich?«
Xeah antwortete nicht. Langsam folgte sie Endriel zu dem kleinen, unscheinbaren Gebäude und betete in einer fremden Sprache. Auch wenn Endriel die Worte nicht verstand, klangen sie in ihren Ohren wie eine Bitte um Vergebung. Und das verwirrte sie zutiefst.
Der versteckte Mechanismus, der die Tür bewegte, versagte, als diese sich halb zur Seite geschoben hatte. Als sie das Innere des Schreins betraten, empfing sie ein dämmriges Glühen: Mannshohe Messingständer, die in jeder Ecke des kleinen Raumes aufgestellt waren, hielten Leuchtstäbe, so groß wie Kerzen. Doch nur einer davon, derjenige links vom Eingang, funktionierte noch, und sein schwacher Schein beleuchtete rote Wände mit goldenen und silbernen Schleifenmustern darauf, die Endriel erst nach zweitem Hinsehen als Kalligraphien archaischer Schriftzeichen erkannte.
Die Tür schloss sich wieder hinter ihnen und sperrte Wind und Staub aus. Eine sakrale Stille herrschte im Inneren.
Endriel zog das Tuch vom Mund, genau wie Xeah. Die Luft hier drinnen war kalt und schmeckte nach Grab, dafür konnte man jedoch atmen, ohne sich dabei die Lunge aus dem Leib zu husten.
Es gab keine Statuen, keine Reliquien. Nur einen Sarkophag aus Jade, in der Mitte des Raumes. Er reichte Endriel bis zur Hüfte, und war reich verziert mit Reliefs und Glyphen von Wäldern und Wüsten, Sternen und Planeten und weiteren Schriftzeichen aus einer der Ursprachen der Draxyll.
Vom Halblicht getäuscht, glaubte Endriel zuerst, jemand läge dort in dem Sarkophag. Sie sah einen Schnabel, der zur Decke zeigte, überkreuzte Arme, sowie die Krallen zweier Füße. Aber es war nur ein weiteres Relief aus Jade, das den Deckel des Sarkophags schmückte.
Die Draxyll, die es darstellte, war ungewöhnlich breit gebaut für ihr Volk, mit einem deutlichen Schmerbauch und einer Haut, die nur aus Schuppen, Runzeln und Falten zu bestehen schien. Sie war bekleidet mit einer einfachen, formlosen Robe, ähnlich wie der, die Xeah trug, und hatte die Augen in friedlichem Schlummer geschlossen; der Anflug eines Lächelns war in den Winkeln ihres Schnabels zu erkennen. Das Bildnis Xal-Namas war so lebensecht, dass es Endriel nicht gewundert hätte, wenn es die Lider aufgeschlagen hätte, um sie zu begrüßen.
Xeahs Hand berührte das Ebenbild der Prophetin. Und sie begann zu weinen. Ihr Horn produzierte dabei einen herzzerreißenden Ton und dicke Tränen kullerten über das Gesicht der alten Heilerin, doch es waren keine Freudentränen, wie Endriel gehofft hatte.
»Bitte«, sagte Xeah. »Bitte vergib mir.«
Es dauerte eine Zeitlang, bis
Weitere Kostenlose Bücher