Rückkehr nach Kenlyn
Endriel begriff, dass sie nicht mit dem Sarkophag sprach. »Wofür soll ich dir vergeben?«, fragte sie, selbst zu Tränen gerührt. » Ich bin diejenige, die ihr Versprechen gebrochen hat.«
Xeah wandte sich ihr zu; ihre Augen glänzten wie ölige schwarze Murmeln. Sie versuchte es, bekam aber kein Wort heraus.
»Wenn jemand um Vergebung bitten sollte«, sagte Endriel sanft, »dann bin ich es. Ich suche verzweifelt nach irgendeiner Möglichkeit, es wieder gut zu machen. Bitte, sag mir wie!«
Xeah schüttelte den Kopf und ließ sich auf dem staubigen Boden nieder, der mit glasierten Achtecken gefliest war; sie leuchteten im gleichen Abendsonnenrot wie die Wände. Sie hatte die Hände in den Schoß gelegt, das Haupt gesenkt und die Augen geschlossen, fast so wie die riesenhafte Statue, auf deren Schoß sie sich befanden.
Endriel setzte sich ihr im Schneidersitz gegenüber und wartete geduldig, bis ihre Freundin die Kraft gefunden hatte, wieder zu sprechen.
»Glauben ist schon eine seltsame Sache«, sagte Xeah irgendwann. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Wenn du ihn einmal gefunden hast, kann er dich unbesiegbar machen. Und gleichzeitig schwächt er dich – denn wenn du ihn verlierst, bleibt dir nur sehr wenig ...« Wieder schwieg sie eine lange Zeit. Dann sah sie Endriel an. »Ich bin den Lehren der Prophetin gefolgt, seit ich geschlüpft bin. Sie war die eine Kraft in meinem Leben, die allem einen Sinn gegeben hat. Sie hat mich gelehrt, dass der Tod nicht das Ende ist; dass es keinen Grund gibt, Angst zu haben. Dass wir alle Teil von etwas Größerem sind. Ihre Worte klangen wahr , sie haben mir Halt und Trost gegeben. Ich ... ich wusste , Xal-Nama ist an meiner Seite, in diesem Leben und im nächsten. Ich dachte, ich wäre auf den Tod vorbereitet. Aber ... ich habe mich geirrt. Ich fürchte mich, Endriel. Ich fürchte mich wie nie zuvor.« Ihre Augen weiteten sich; erst jetzt sah Endriel, dass ihre uralten Hände zitterten.
»Aber ...«, begann sie mit trockenem Mund, »du warst immer so stark!«
Dünne Lider fielen über Xeahs Augen.
»Wann – wann hat das angefangen?«
»Vor fünf Monaten vielleicht«, sagte die alte Heilerin. Ihr Blick verlor sich in den kunstvollen Schriftzeichen an den Wänden ringsum. »Als mir zum ersten Mal klar geworden war, dass mein Leben zu Ende geht. Von da an kamen die Zweifel wie ein schleichendes Gift. Ich fing an, mich zu fragen: Was, wenn du dein Leben lang einer fixen Idee nachgelaufen bist? Was, wenn du dich die ganze Zeit nur selbst belogen hast, weil dir die Wahrheit zu unbequem war? Vielleicht hat Xal-Nama nie existiert. Vielleicht war sie nur eine Erfindung der Priesterschaft. Ich hatte schon vorher Zeiten des Zweifelns erlebt; mein Leben lang, immer wieder. Aber sie gingen vorbei und mein Glaube war danach nur noch stärker als zuvor. Aber jetzt ...« Sie schüttelte kaum merklich den Kopf.
»Es ist, als hätte ich all die Jahre mühelos auf einem Seil balanciert, ohne zu wissen, dass unter mir ein Abgrund liegt. Jetzt habe ich das Gleichgewicht verloren und kann nicht aufhören zu fallen. Ich habe gebetet; ich habe Xal-Nama angefleht, mir wieder Kraft zu geben, doch nichts hat geholfen.« Sie bedeckte die Augen mit den Händen und weinte stumm.
Endriel fühlte sich, als würde ihr jemand die Kehle zudrücken. »Das ... das habe ich nicht gewusst. Es tut mir leid ...«
Xeah drehte den Kopf einmal nach links und einmal nach rechts. »Das muss es nicht: Ich habe mir ja alle Mühe gegeben, es vor euch zu verstecken. Ich ... ich dachte immer: Es ist nur eine Phase, es geht vorbei. Ich hatte gehofft, ich würde etwas sehen – ein Omen, irgendein Zeichen, das nur zu mir spricht. Und irgendwann ... habe ich das Warten aufgegeben.«
»Wir hätten versuchen können, dir zu helfen. Warum hast du nichts gesagt?«
»Das wollte ich ja, aber ... ich konnte es nicht.«
»Aber ...!«
»Endriel, versteh doch: Ich habe immer versucht, euch Mut zu machen oder Trost zu spenden. Doch dabei habe ich euch nur Weisheiten aufgetischt, an die ich selbst nicht mehr glauben konnte. Ich habe euch belogen.«
»Was?« Endriel schüttelte mit ungläubigem Grinsen den Kopf. »Das ist doch Blödsinn!«
Xeah schwieg.
»Und deswegen wolltest du zurück ins Kloster? Damit wir davon nichts mitbekommen?«
»Nein, ich ...« Xeah holte tief Luft, bevor sie weitersprechen konnte. »Nicht nur deshalb. Ich liebe das Leben, Endriel. Die Welt ist so wunderschön, und ich habe euch
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