Rückkehr nach Kenlyn
Liyen atemlos über den Lärm hinweg.
»Ja!«, gab Endriel zurück. »Überleben!«
»Oh, brillant!«
Endriel ignorierte sie. Ich brauche eine Waffe! Ein Schwert, einen Stock – irgendwas!
Liyen und sie umrundeten eine Häuserreihe. Die Freibeuter waren außer Sicht, jedoch nicht außer Hörweite. Sie würden zwei Passantinnen nicht durch die ganze Stadt hetzen, oder?
»Hier rein!« Liyen packte Endriels Arm und zog sie in eine Querstraße zwischen zwei Gebäuden. Endriel sah ihr deutlich an, wie sehr sie unter dem Gewicht des Rucksacks litt. Wahrscheinlich war er, beziehungsweise sein Inhalt, der Grund, warum die Piraten sie verfolgten. »Wirf dein verdammtes Gepäck ab!«, rief sie.
»Auf gar keinen Fall!«, gab Liyen zurück.
Sie hechteten durch die Schatten zwischen den Häusern. Die Piraten waren mittlerweile an der Querstraße vorbeigelaufen, weiter die Promenade hinab.
Seitenstechen quälte Endriel, ihr Speichel schmeckte nach Blut; sie fand es erstaunlich, wie sehr ihre Kondition nachgelassen hatte, nachdem sie seit sechs Monaten nicht mehr um ihr Leben gelaufen war.
»Was ist ... mit den ... verfluchten Weißmänteln?«, fragte sie, nach Luft schnappend.
Liyen hatte das Ende der Straße erreicht, dann drückte sie sich gegen eine Mauer. »Da hast ... du deine ... Antwort!«, keuchte sie mit gesenkter Stimme. Endriel verlangsamte ihre Schritte und spähte an Liyen vorbei:
Die Antriebe der Piratenschiffe überzogen den runden Platz im Stadtzentrum mit einem gespenstischen blauen Glühen. Ein Dutzend Lebewesen lag dort. Ob bewusstlos oder tot, konnte sie nicht sagen, doch nicht wenige von ihnen trugen weiße Uniformen mit roten Flecken.
»Scheiße«, keuchte sie und zog den Kopf zurück. Sie warf einen erneuten Blick auf den Platz, in dem Versuch, die Lage einzuschätzen.
Das Freudenfeuer war nicht das einzige, das brannte: Von den Häuserreihen dahinter stieg schwarzer Rauch auf. Die Imbissstände waren fast alle zerstört; der große Kessel mit Eintopf war umgekippt, sein Inhalt hatte sich auf eine reglose Gestalt auf dem Boden ergossen. Es war die alte Frau, von der sie vorhin die Maronen gekauft hatte.
Die drei Nexus-Portale waren deaktiviert; sie sahen aus wie riesige Rechtecke aus glattem, schwarzen Stahl. Ein halbes Dutzend Piraten bewachten sie mit Argusaugen.
»Irgendeine Idee?«, flüsterte Liyen.
Wir gehen zurück , wollte Endriel antworten. Da hörten sie hinter sich, am anderen Ende der Querstraße, erneuten Lärm aufbranden. Schüsse fielen, jemand schrie. An den Schiffslärm hatte sie sich inzwischen gewöhnt, ihn konnte sie ertragen. Aber nicht die gellenden Schreie um sie herum.
Weiter , gestikulierte sie Liyen.
Sicher?, fragte deren Blick.
»Unter den Arkaden durch!«, zischte Endriel. Sie zeigte in eine Richtung, die hoffentlich Westen war und sie zum Landeplatz der Korona führen würde. Wieder ertönte hinter ihnen Grölen und Geschrei. Es kam näher.
Sie schlichen gemeinsam aus der Querstraße: Liyen voran, Endriel dicht hinter ihr. Sie hörte nur ihren eigenen Herzschlag, der ihr in Brust, Hals und Ohren dröhnte. Mit angehaltenem Atem trat sie unter den Schatten der Arkaden und versteckte sich hinter einer bauchigen Granitsäule.
Wenn die Piraten sie bemerkt hatten, ließen sie sich davon nichts anmerken. Endriel stieß die aufgestaute Luft aus und kämpfte gegen ihr Schwindelgefühl an. Es war zu lange her, dass sie etwas Vernünftiges gegessen hatte – wenn sie gewusst hätte, dass heute noch Jagd auf sie gemacht würde, hätte sie sich etwas besser darauf vorbereitet.
Sie schrie beinahe auf, als jemand ihre Schulter berührte. Liyen. Sie legte den Finger an die Lippen und deutete mit dem Kopf in eine Richtung. Endriel nickte stumm. Sie schlichen weiter, dicht an den Häuserwänden entlang, stets im schützenden Dunkel.
Wer immer diese Arkaden gebaut hat, verdient einen Orden , dachte Endriel. Sie wünschte sich nur, Liyens massiger Rucksack würde ihr nicht andauernd die Sicht nach vorn versperren. Trotzdem war ihr wohler dabei, hinter ihr zu gehen und sie so ständig im Blick zu haben.
Da erschütterte eine Explosion den Boden unter ihren Füßen.
»Was war das?« Liyen riss erschrocken die Augen auf. Staub rieselte ihr in die Haare.
Endriel schüttelte den Kopf. Sie wusste es nicht, aber es kam ganz aus der Nähe. Sie nehmen die halbe Stadt auseinander!
Sie hatte noch nie gehört, dass Drachenschiffpiraten, egal von welcher Horde, so verrückt waren,
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