Rückkehr nach Kenlyn
kannst. Der erste Nichtmensch, dem ich je begegnet bin, war ein alter Draxyll; ein Gelehrter auf Wanderschaft, der bei uns Zuflucht vor einem Sturm suchte. Da war ich gerade ... acht, glaube ich. Ich konnte nicht aufhören, ihn anzusehen.« Liyen lächelte bittersüß, versunken in Erinnerungen. »Als er mir einen Geisterkubus gezeigt hat, mit Aufnahmen von Teriam, hab ich mir fast in die Hose gemacht vor Freude. Ich meine, hey, eine fliegende Stadt! Das kann ein junges Mädchen von der Küste schon beeindrucken.«
Endriel verzog den rechten Mundwinkel. »Ich nehme an, er ist auch getürmt, so schnell er konnte?«
»Nein, er blieb etwa ein Jahr. Zum Glück für mich. Für Kost und Logis hat er mir Lesen, Schreiben und Rechnen beigebracht und von der großen, weiten Welt erzählt. Ruun Ko-Dar war sein Name. Er ist gestorben, als ich mit meinem Vater Fischen war. Wir haben ihn in einer Höhle am Strand begraben. Es ist nie jemand gekommen, der nach ihm gefragt hat.« Liyen brauchte einen Moment, bevor sie fortfuhr. »Meine Eltern sind ziemlich einfache Menschen. Arm und stolz darauf. Ich bin das älteste von drei Kindern, und natürlich stand lange vor meiner Geburt fest, dass ich in ihre Fußstapfen treten sollte.«
Endriel nickte. »Kommt mir irgendwie bekannt vor.«
»Dann verstehst du sicher auch, dass mir das nicht gereicht hat. Anstatt Schollen und Flundern auszuweiden, hab ich lieber in den paar Büchern gelesen, die Ko-Dar mitgebracht hatte. Geschichten über die Hohen Völker, über die Schwebende Stadt. Und über die Nexus-Portale. Natürlich hatten meine Eltern nur sehr wenig Verständnis für meinen Wissensdurst. Die Dinge in Lorsha sind seit fast tausend Jahren, wie sie sind, und wahrscheinlich haben sie befürchtet, das Universum würde implodieren, wenn sich daran etwas ändert. Na ja, und außerdem hatte ich angefangen, Dao und Elai – meinem Bruder und meiner Schwester – Flausen in den Kopf zu setzen. Was natürlich nicht sein durfte. Immerhin war ich die Älteste und musste hocherhobenen Hauptes und mit gutem Beispiel vorangehen. Wenn sie Mist bauten, und das taten sie eigentlich andauernd und auch ohne meine Hilfe, wurde ich dafür zur Rechenschaft gezogen.«
»Hat sicher Spaß gemacht.«
»Oh, gewaltig. Wie ich von meinem Vater gelernt hab, sind Paddel nicht nur zum Rudern da.«
»Wie lange hast du’s ausgehalten?«
»Bis ich siebzehn war.«
»Doch so lange.« Endriel bemerkte gar nicht, dass sie die Armschiene völlig vergessen hatte. Sie fand es schwer, sich dem ruhigen, dunklen Klang von Liyens Stimme zu entziehen.
»Ich wäre vorher gegangen, aber ich habe gewartet, bis Elai fünfzehn wurde und meinen Eltern einigermaßen Paroli bieten konnte. Dann hab ich mir mitten in der Nacht ein Boot geschnappt und bin einfach nach Osten gerudert, immer weiter und weiter, bis ich am nächsten Morgen den Leuchtturm von Quaigo gesehen habe. Dort bin ich an Land gegangen – und hab nie mehr zurückgeschaut.
Mir stand vor lauter Staunen der Mund offen; ich glaube, die ersten Wochen habe ich sogar mit heruntergeklappten Kiefer geschlafen. Ich hatte mich zum ersten Mal verliebt.«
»Aber nicht in Kai ...«
»Nein. In die Welt . Und in ihre Völker.« Liyens Gesicht strahlte selig bei der Erinnerung. »Ich habe die alten Kultstätten bereist, wie die Weinenden Felsen, das Tal der Gefallenen Sterne und die Säulen von Halaan. Einige Zeit war ich sogar mit einem Klan von Skria-Nomaden unterwegs, den Keem-Rona, auf dem Weg durch die nördlichen Grasmeere bis zum Dschungel von Xida-Ma. Danach habe ich für ein paar Monate einen Anwärter der Bruderschaft der Troubadoure auf seiner Wanderzeit begleitet. Von ihm hab ich gelernt, wie man Glingdani und Tailarro spielt. Ich habe Lieder gehört, die so alt sind wie die Hohen Völker selbst. Den einen Tag habe ich im roten Sand des Niemandsland gesessen und mit den Jüngern der Gnadenreichen Sonne meditiert, den anderen war ich im Wandernden Basar und hab kandierte Früchte geklaut. Jeder Tag war ein Abenteuer. Egal ob Menschen, Draxyll, Skria oder Yadi, ich habe sie alle geliebt; die Dichter, die Lügner, die Heiligen, die Sünder, die Anarchisten und die wahren Gläubigen, für ihr Leben, ihre Fantasie, ihr Mitgefühl, ihre Träume – und ihren Dickschädel. So sehr, dass ich ihnen sogar ihre Fehler vergeben konnte, ihre Ignoranz und ihre Blindheit. Ich war unter ihnen, hab mit ihnen gelacht, geweint, mit ihren Kindern gespielt und in ihren Häusern
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