Rückkehr nach Killybegs
einem als Straßenfahrzeug getarnten Lieferwagen mit orangefarbenem Warnlicht und Baustellenschildern auf dem Dachträger. Man sah nur uns, also fielen wir nicht auf. Wir fuhren an zwei Panzerfahrzeugen vorbei, Landrover der königlichen Polizei, und passierten winkend eine Straßensperre. Der Verräter lag mit verbundenen Augen und auf dem Rücken gefesselten Händen auf dem Boden unter einer Baustellenplane, auf der unsere Füße standen. Kilometerlang saß ich über ihn gebeugt und drückte den Lauf meines Revolvers in die grüne Leinwand. Ein Wagen fuhr vorneweg. Wir waren per Funk verbunden. An der Grenze wurden wir von einer Einheit aus Süd-Armagh erwartet. Es wurde Nacht. Drei Männer führten den Kerl weg. Er hieß Freddy und war neunzehn. Das habe ich aus der Zeitung erfahren, nachdem die Polizei seine Leiche gefunden hatte.
In Dublin angekommen, fragte mich Eugene, ob ich Wasser wollte.
»Der hat keinen Durst«, antwortete der am Steuer.
»Aber Tyrone hat doch gesagt, er …«
»Tyrone ist tot«, erwiderte der andere.
Das Bärchen machte die Flasche wieder zu. Ich hatte die Hand schon ausgestreckt. Irland versagte mir sein Wasser.Ich atmete unrechtmäßig seine Luft. Mir blieb nichts von meinem Land.
Nachdem sie mich in eine Pressekonferenz geschleppt hatten, hatte mich die republikanische Partei der IRA übergeben. Während des Verhörs war ich nicht gefesselt und hatte keine Binde vor den Augen. Ich konnte ihnen ins Gesicht sehen. Sie waren immer noch ohne Waffen und unmaskiert. Ich wusste jetzt, dass sie mich nicht exekutieren würden, musste es mir aber immer wieder sagen. Mir gegenüber am Tisch saß Mike O’Doyle, der sich für einen Richter hielt, neben ihm ein älterer Typ mit Dubliner Akzent. Mike nannte mich Tyrone. Der andere nur Meehan. Da begriff ich: Ich hatte nicht nur mein Land verloren, sondern auch meinen Vornamen, ich war kein Bruder mehr. Ich war allein.
»Welche Informationen hast du dem Feind geliefert, Meehan?«, fragte der Unbekannte.
Eine Kamera beobachtete mich. Ich hatte beschlossen, nicht zu antworten. Kein Wort mehr.
So hatte der alte irische Polizist eben mit mir gesprochen. Eisig, wie ein IRA-Mann. Mein Vorname schwebte noch leise auf den Lippen des jungen. Mein Nachname lag dem anderen schon auf der Zunge. Ich war nicht mehr von dieser Erde, auch nicht mehr von diesem Dorf. Patraig Meehan hatte Killybegs einen Verräter geschenkt. Nach dem schrecklichen Vater der ehrlose Sohn. Ein Fluch lag auf unserer Sippe. Der alte Cop würde wegschauen, wenn der Tod zu mir käme. Er würde ihn durch den Wald führen, ihm die Tür öffnen und mit dem Kinn auf mich deuten. Er widertemich an. Er wusste, dass ich es wusste. Mein Schweigen schrie es ihm ins Gesicht. Der Jüngere stellte mir noch ein paar halbherzige Fragen, der Ältere ließ mich nicht mehr aus den Augen. Er hörte auf meinen Blick, nicht auf meine Worte.
»Wie heißen Sie mit Vornamen?«, fragte ich ihn, einfach so. Meine Angst verharrte in seiner Verachtung.
»Séanna«, sagte er leise.
»Das ist der Name meines Bruders.«
Er lächelte. Ein echtes Lächeln, wie schön!
Dann hielt er mir ein gefaltetes Papier hin.
»Unter dieser Nummer können Sie uns immer erreichen.«
Alles schlug um. Sein Gesicht war nicht mehr dasselbe, seine Stirn tat Kummer kund. Er machte sich einfach Sorgen um mich. Ein braver Ordnungshüter, ein argloser Landpolizist ohne Abneigung. Der schnell wieder nach Hause wollte. Ich hatte mich getäuscht. Vor lauter Lügen konnte ich Menschen nicht mehr lesen.
»Seien Sie vorsichtig, Tyrone«, sagte Séanna.
Alles um mich herum drehte sich. Dann nickte ich, eine fast unmerkliche Bewegung mit dem Kinn. Wie ein am Ende seines Zweiges bebendes Blatt.
Ich ging wieder hinein. Versperrte die Tür. Schob den Riegel vor. Gewohnte Verrichtungen. Das Feuer fiel langsam in sich zusammen. Ich goss mir ein großes Glas Wodka ein. Jenseits der Vorhänge zog der Tag sich hin. Ich betrachtete meine Hände, warum auch immer. Sie waren kaputt von zu viel Leben. Aufgesprungen, unförmig, rau und steif. Ich fürchtete das Wetter.
»Mit solchen Fingern kann man besser ein Gewehr halten als eine Violine!«
Ich lächelte. Dachte an Antoine, den Pariser Geigenbauer, den ich vor dreißig Jahren in Belfast kennengelernt hatte. Den schweigsamen Franzosen, der sich eines Tages zum irischen Republikaner erklärt hatte. Der dachte wie wir, lebte wie wir, angezogen war wie wir und kämpfte, um seinen Platz in unserer
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