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Rückkehr nach Killybegs

Rückkehr nach Killybegs

Titel: Rückkehr nach Killybegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sorj Chalandon
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Schwester Mary war mit drei Jahren an einer Hirnhautentzündung gestorben. Seine Mutter, die auch Mary hieß, mit neunundzwanzig bei der Geburt einer Tochter, die ihrerseits sechs Wochen später starb.
    »Das Elend ist schuld daran, nicht das Leben«, sagte Tom.
    Also sprachen wir über das Elend. Die große Hungersnot. Barfüßige Kinder im Dreck, mit nässenden Mundwinkeln vom Hungerausschlag. Den Tod meines Vaters im Eis. Wir hatten einen gemeinsamen Zorn. Und Hass. Tom Williams war aus seinem Viertel geflohen wie wir. Loyalisten hatten eine Bombe auf eine Gruppe Kinder geworfen, die in einem Park spielte. Es hatte Tote gegeben. Toms Onkel Terry Williams wurde verhaftet, weil er seine Straße verteidigt hatte. Die protestantischen Mörder nicht. Das war ungerecht. Alles war ungerecht. Wir waren allein auf der Welt, unser Krieg wurde weggewischt von einem anderen, der uns nichts anging. Die ganze Welt schaute weg. Wir konnten uns nur auf uns selbst verlassen. Tom war arbeitslos wie alle Männer inunseren Vierteln. Séanna und ich wären es auch gewesen, hätte Onkel Lawrence uns nicht sein Geschäft mit seinen Besen, Schaufeln und Kaminbürsten überlassen. In diesem Land würde es nie Arbeit für uns geben.
    Tom zündete eine Zigarette an und reichte sie mir mit drei Fingern, die erste meines Lebens. Ich nahm sie. Und blinzelte dann in den Rauch, wie es Erwachsene tun. Tom beobachtete von einer Treppe aus die Straße. Wie er hatte auch ich meine schwarze Krawatte gelockert und meinen Kragen geöffnet. Dann erzählte er, dass er sich Sorgen wegen Ostern mache. Obwohl er nur zwei Jahre älter war als ich, konnte ich ihn nicht als jung empfinden. Sein Gesicht war gezeichnet, sein Blick der eines Witwers. Nie wieder würde ich in der Stimme eines Mannes so viele Verletzungen hören.
    *
    Die Briten hatten jede Versammlung am Ostersonntag 1942 verboten. Wir hatten beschlossen, uns dem nicht zu beugen. Niemand würde uns daran hindern, den Aufstand von 1916 zu feiern und den Helden der Republik unsere Dankbarkeit zu erweisen.
    Die Bewegung hatte drei illegale Demonstrationen in Belfast geplant, flankiert von uniformierten Fianna. Ich fragte Tom, was wir tun sollten, wenn die Polizei eingreife. Er lächelte.
    »Sie werden mit uns genug zu tun haben.«
    Ich machte große Augen. Ich wollte wissen, was die IRA vorhatte.
    »Willst du den Einsatzplan schriftlich?«
    Ich wurde rot. Schüttelte den Kopf und sog einen Schwall beißenden Rauchs ein, um mich am Reden zu hindern.
    »Jeder an seinem Platz, Tyrone Meehan.«
    Er stand auf. Verabschiedete sich wie ein Soldat, mit dem Finger an der Schläfe. Gegenüber lösten sich zwei óglachs aus dem Schatten einer Mauer, um ihn zu beschützen.
    »Bye, Fianna!«, rief Tom Williams.
    Ich sah ihm nach, wie er die Bombay Street entlangging, ein Mann mit drei Schatten. An der Ecke bog er ab. Pfiff »God save Ireland!«. Ich drückte den weißen sliotar . Ich machte mir Sorgen um uns alle.
    Am Ostersonntag zog Mama uns für die Messe an. Ich trug ein altes weißes Hemd von Séanna. Niall eine meiner Hosen. Meine Fianna-Uniform war unter Saras Decke im Kinderwagen versteckt. Das Viertel war menschenleer und angespannt, aber überall in den Ghettos der Nationalisten öffneten sich freundliche Türen für uns Scouts. Paarweise bereiteten wir uns vor, in Hinterhöfen, Kleiderschränken, Verschlägen, Schulhöfen oder Abstellkammern von Kneipen. Als wir am Laden der Costellos vorbeikamen, machte uns Sheila die Tür auf. Meine Familie umringte den Kinderwagen, als müsste die Kleine getröstet werden. So gaben sie mir Sichtschutz. Als ich zu den Costellos hineingehuscht war, setzten die Meehans ihren Weg zur Kirche fort.
    Danny Finley stand oben auf der Treppe. Unter den Augen eines traurigen Jesus legte er schweigend die Uniform an. Sheila saß auf den Stufen und schaute zu, wie ich meineschwarzen Shorts anzog. Ich wurde rot. Ich liebte sie. Aber es war eine prüde Zeit, und die Stadt wusste alles von ihren Kindern. Auf zwei schüchterne Hände, die sich suchten, kamen Dutzende Finger, die auf sie zeigten. Das war weder boshaft noch spöttisch. Nur das Gefühl, dass hinter jedem Vorhang ein Urteil wohnte. Die Briten überwachten unser Handeln, die IRA unser Engagement, die Priester unser Denken, die Eltern unsere Kindheit und die Fenster unsere Liebe. Wir konnten uns nicht verstecken.
    »Brits! Brits!«, rief eine junge Stimme auf der Straße.
    Sheila sprang auf und lief die Treppe hinunter.

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