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Rückkehr nach Killybegs

Rückkehr nach Killybegs

Titel: Rückkehr nach Killybegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sorj Chalandon
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auf dem Betonboden voller Blut und Wasser. Ich auf dem Rücken, den Fuß des einen an der Kehle, die Wange eines anderen an meiner Wange, Dannys Gewicht auf meinen Beinen. Einer hatte gekotzt. Ich schloss die Augen, um zu schlafen. Ich zitterte. Da hörte ich ein Flüstern, eine ganz schwache Stimme.
    »Tyrone?«
    Danny.
    Ich hatte Blut im Mund und braunen Schaum auf den Lippen.
    »Wenn du mich hörst, beweg den Fuß!«
    Ich tat es.
    »Hörst du zu?«
    Gleiche schmerzhafte Bewegung.
    »Also. Auf dem Land, in der Nähe von Crossmaglen, lauert eine Einheit der IRA einer englischen Patrouille auf. Die Briten kommen jeden Tag um siebzehn Uhr dort vorbei. Um siebzehn Uhr zehn noch immer nichts. Käpt’n Paddy schaut auf die Uhr und sagt: ›Scheiße, hoffentlich ist denen nichts passiert …‹«
    Ein Zucken. Ein Lachen. Ein Schmerz in der Brust und im Bauch.
    »In ainm an Athair, agus an Mhic, agus an Spioraid Naoimh …«
    In Gedanken betete ich das Vaterunser auf Gälisch.
    Und Tom Williams betete mit mir.
    Am nächsten Morgen brachte man mich in eine Zelle, allein. Drei mal zwei Meter, ein Eisenbett, ein Nachttisch, eine Schüssel, ein Kübel. Zwei Haken an der Wand für die Kleider. Ziegelgewölbedecke in Cremeweiß, der Boden wie geronnenes Blut, ein hohes Oberlicht, durch das der Tag kaum drang. Mein erstes Mal. Meine ersten Tränen. Sie warteten nur auf ein Signal von mir. Seit ich hier war, hatten mich Stolz und Schmerz zu sehr in Atem gehalten. Doch kaum war die Tür zu und ich allein in meinem Loch, war ich wieder siebzehn. Kein Fianna mehr, kein Republikaner, nicht einmal mehr Ire. Soldat von nichts und niemandem. Ich lag auf dem Bett, die Knie an die Brust gezogen, die Hände unterm Kinn gefaltet, und weinte. In diesem Augenblick begriff ich, dass mein Leben zwischen Kerkermauern und Stacheldrahtstraßen ersticken würde. Rein in den Knast, raus aus dem Knast, bis zum letzten Atemzug. Die Hände frei und gefesselt, frei und gefesselt, und immer nur befreit, um ein Gewehr zu halten und auf die nächsten Fesseln zu warten. Ohne je zu wissen, ob der Tod mich draußen oder drinnen erwischen würde.
    »Hier wird nicht geschlafen! Sitzen oder stehen!«, brüllte ein Wärter, das Auge am Spion.
    Also ging ich auf und ab. Drei Schritte längs, zwei Schrittequer, mit plötzlichen Rhythmuswechseln, um mich selbst zu überraschen.
    Am 8. März 1943 wurde ich achtzehn. Ein paar Kameraden hatte ich es gesagt. Ich hörte ihre Stimmen. Männerstimmen, brüchig von Alkohol und Zigaretten, erschöpft vom Schreien und von der Gefangenschaft. Sie schrien aus ihren Zellen: »Alles Gute zum Geburtstag, kleiner Tyrone!« – »Lá Breithe shona dhuit, wee Tyrone!«
    »Irisch ist hier verboten!«, brüllte ein Wärter und hämmerte an die Türen.
    Unsere Sprache war eine Waffe. Das wussten sie.
    Am Sonntag, dem 14. März, kamen während der Messe zwei Häftlinge auf mich zu. Einer riesig, der andere kleiner. Father Alan hatte seine sündige Herde nicht im Griff. Ein paar sangen zwar die Kantaten und antworteten dem Kaplan, die anderen aber nutzten die Messe, um Neuigkeiten auszutauschen. Denn sogar beim Hofgang waren Gespräche zwischen Gefangenen verboten. Hier aber wurde das geduldet. Die Wachen griffen nicht ein. Eine Stunde Freiheit gegen das Durchdrehen.
    »Du bist letzten Montag achtzehn geworden?«, fragte mich der Große.
    Ein Dutzend andere rückten auf einmal näher und bildeten mit dem Rücken zu uns eine Wand. Ich wunderte mich über diese Umzingelung. Den, der mich angesprochen hatte, kannte ich nicht. Ich nickte.
    »Ja, bin ich.«
    »Und du bist der Bruder von Leutnant Séanna Meehan?«
    Leutnant? Séanna war Leutnant?
    »Ja.«
    Ein Blick. Ich war beeindruckt. Und tat, als wüsste ich Bescheid.
    »Heute hast du die Wahl, Fianna: Nach Hause, wenn du rauskommst, oder zu uns.«
    »Das ist keine Verpflichtung«, ergänzte der Kleinere. »Man kann der Republik auch anders dienen.«
    »Studieren zum Beispiel«, nahm der Erste den Faden auf.
    Ich schüttelte den Kopf. Ich war ein schlechter Schüler gewesen in Killybegs. Ich hatte nie verstanden, warum man zur Schule gehen sollte. Und Mathe und Logik auch nicht. Nur Gälisch, Englisch und Geschichte mochte ich. Die Pfarrer hatten uns an den Haaren gezogen. Mein Vater schlug mich bei jeder schlechten Note. Und meine Mutter konnte mit Mühe ihr Messbuch lesen.
    »Ich unterstand dem Befehl von Tom Williams«, sagte ich dann. Nicht aus Eitelkeit oder Anmaßung. Sie sollten nur

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