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Rückkehr nach Killybegs

Rückkehr nach Killybegs

Titel: Rückkehr nach Killybegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sorj Chalandon
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sich zeigen sollten. Ältere Männer hatten Hurling-Schläger in Werkzeugtaschen mit oder genagelte Stöcke. Keine Waffen. Wir wollten uns nur verteidigen, nicht angreifen.
    An der Ecke Conway erhielten wir den Befehl, uns zu zerstreuen. Ganz plötzlich. Dabei waren wir noch weit vom Friedhof entfernt. Zwei Männer kletterten auf das Dach eines Lasters, schwenkten die Arme und forderten uns auf, den Demonstrationszug aufzulösen.
    »Zurück auf die Bürgersteige! Sofort! Nicht einzeln nach Hause gehen! Schließt euch einer Gruppe an, wenn ihr allein seid!«
    »Aber nicht mehr als fünf Leute auf einmal!«, rief der andere.
    Den Älteren kannte ich. Er hatte uns von der Großen Hungersnot erzählt.
    Ich breitete die Arme aus und pfiff, um die Menge auseinanderzutreiben.
    »Nicht rennen! Auf den Bürgersteigen gehen! Weitersagen!«
    Danny Finley stieg auch auf den Laster.
    »Die Fianna ziehen sich hier um, sofort! Dann geht jeder zu seinem cumann !«
    Sheila kam angerannt. Sie schüttete den Kleidersack auf dem Bürgersteig aus. Wir gaben ihr unsere Uniformen. Hemd, Jacke, Hose. Ich stand in Boxershorts auf der Straße. Es war mir egal. Sie stopfte das rebellische Grün in ihren Beutel. Drückte unsere Hüte platt. Um uns herum löste sich murmelnd die Menge auf. Die Straße hatte keine Angst. Sie machte sich Sorgen. Was war los? Warum wurde der Zugmittendrin gestoppt? Eine junge Frau eilte auf Sheila zu. Ohne ein Wort oder einen Blick mit ihr zu wechseln, nahm sie ihr das Bündel ab. Verbarg es unter dem Mantel, hängte sich bei einem Mann ein, der scheinbar beruhigend auf sie einsprach, und schleppte sich mühsam über die Straße, eine Hand auf dem Bauch – eine werdende Mutter am Arm des künftigen Vaters. Ich kannte weder die Frau noch den Mann. Aber ich wusste, dass unsere Kleider abends in der Zentrale sein würden, auf Umwegen dorthin gelangt, von unbekannten Händen an unbekannte Hände weitergereicht.
    Diese schlichten, schönen Gesten waren mir, seit ich in Belfast lebte, stets eine Beruhigung: die offenen Türen auf unseren Fluchten. Der Tee, den uns eine Frau nachts anbot, nachdem sie uns in ihrem Garten überrascht hatte. Die Beichte, die ein Pfarrer kniend inszenierte, als Polizisten mich bis in seine Kirche verfolgten. Der schwarze Pulli, den mir ein Nachbar um die Schultern legte, als ich im November auf der Straße Wache stand.
    »Mein Sohn braucht ihn nicht mehr, da, wo er jetzt ist.«
    »Go raibh maith agat.«
    Ich bedankte mich auf Gälisch. Der Mann lächelte. Und musterte mich genauer.
    »Na so was! Verstärkung aus dem Freistaat!«
    Dann lachte er und verknotete mir die gestrickten Ärmel vor der Brust.
    Ein englisches Aufklärungsflugzeug überflog unser Viertel. Die Kinder zeigten ihm den Stinkefinger und hofften, dass es mit einem der Fesselballone zusammenstieß, die zum Schutzvor Luftangriffen über der Stadt schwebten. In der Falls Road herrschte wieder der übliche schwache Verkehr. Die Bürgersteige waren voller Familien. In ein paar Minuten würde man keine Fianna mehr sehen, keine Rebellen, keine Demonstranten. Nur Einwohner, die schnell zum Tee nach Hause wollten.
    *
    Tom Williams war zusammen mit fünf Männern der Kompanie C von den Briten verhaftet worden. Das Zweite Bataillon der Belfast-Brigade hatte einen seiner Anführer verloren. Wir versammelten uns in der Zentrale, um den leeren Boxring. Zur Sicherheit hatte Danny nur die Notbeleuchtung eingeschaltet. Immer schlimmere Neuigkeiten trafen ein. Sie kamen von überall her und gingen von Viertel zu Viertel.
    Um die Demonstration zu schützen, hatte Tom mit seinen Soldaten in der Kashmir Road das Feuer auf eine Polizeipatrouille eröffnet. Er wurde verletzt und ordnete den Rückzug an, aber die Polizisten verfolgten sie wie eine Hundemeute. In der Cawnpore Street öffneten sich die Türen für unsere Leute. Ein Polizist drang gewaltsam in ein Haus ein: Patrick Murphy, ein Katholik, der selbst in der Falls Road wohnte und neun Kinder hatte. Alle kannten ihn. Er wurde mitten im Wohnzimmer erledigt.
    »Er war ein Scheißcop!«, rief Danny Finley.
    Trotzdem, er war Katholik.
    »Verräterschwein!«, schimpfte Danny.
    Wir nickten, doch unsere Fianna-Herzen waren verwirrt. Die IRA hatte einen der Unsrigen ermordet. Oder so gut wie. Einen katholischen Arbeitslosen, der seine Familie ernährte, so gut er konnte.
    »Indem er uns in den Rücken schießt, ja?«
    Okay. Aber trotzdem. Er war von unserem Fleisch. Britische Haut war Tierleder.

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