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Rückkehr nach Killybegs

Rückkehr nach Killybegs

Titel: Rückkehr nach Killybegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sorj Chalandon
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auf »Feuer«. Schwitzte. Zitterte immer noch. Ich war ein Block aus Angst und Hass. Sie standen vor mir. Ich sah sie. Eine kleine Gruppe, Fackeln, Schreie: Hexenverbrenner, Katechismusteufel. Ein Schatten mit einem Gewehr in der Hand schien auf der Straße zu tanzen. Sie zerschlugen Fenster und Türen. Die Polizei ließ sie gewähren. Ich gab vier schnelle Schüsse ab, fast einen Kugelhagel. Zielte mitten in diesen Haufen lebender Schatten. Ich wollte töten. Die Kraft der Waffe verblüffte mich. Sie war auf meinen Schenkel gerutscht. Ich nahm sie wieder in die Hand. Auf der anderen Straßenseite eröffneten die Unsrigen das Feuer aus Karabinern. Danny stand auf der Barrikade, zielte über die Köpfe hinweg insDunkel. Plötzlich regnete es erneut Gaskapseln. Mit brennenden Augen, Brechreiz und zugeschnürter Kehle zog ich mich in den weißen Schwaden zurück. Keine Luft mehr. Nichts mehr. Wie unter Wasser. Mit weit aufgerissenem Mund und zerschlagener Brust. Ich starb. So war das also. Ich hätte mir ein bisschen Luft aufheben sollen, in einer Backe, der Nase, meiner Tasche. Dann der Schlag. Etwas traf mich heftig an der Schläfe. In die Schulter. Kugeln, Steine, keine Ahnung. Die Maschinenpistole war nach unten gesunken. Ich richtete sie wieder nach vorn. Versuchte sie auf der Hüfte abzustützen. Husten. Blut in den Augen. Ich drückte ab. Glaube ich. Ich weiß es nicht mehr. Ich hörte die Schüsse. Sah das Mündungsfeuer. Danny fiel um. Ich war hinter ihm. In zwanzig Meter Entfernung. Drei Schüsse aus meiner Tommy gun , und Danny kippte vornüber. Stand wieder auf. Drehte sich um. Sah mich mit offenem Mund an. Machte eine fragende Geste. War erstaunt. Begriff nicht. Ließ seinen Revolver fallen. Hob seine Hände zur Brust. Glitt an der Matratze entlang, bis er bäuchlings dalag und die Stirn auf dem Boden aufschlug. Das weiße Licht des Panzers ergoss sich in die Straße. Ich stand. Danny lag am Boden. Ich fiel auf die Knie.
    »Sie haben Danny erwischt!«
    Die Stimme von einem der Unsrigen. Ich weiß nicht mehr, wer es war.
    »Und Tyrone!«
    Arme hoben mich auf. Ich habe nichts, ich lebe, ich habe nichts, murmelte ich vor mich hin. Eine Hand nahm die Waffe. Jenseits der Barrikade fuhr der Panzer mit heulendem Motor rückwärts. Kein Schuss mehr. Kein Stein. Nur Atemnot. Brandgeruch. Graue Asche, die gen Himmel flog. »Mörder!Mörder!«-Rufe von Frauen und Männern. Sinnlose Steinwürfe der Kinder, die am Stahl der Maschinenpistole kratzten.
    »Tyrone? Hörst du mich, Tyrone?«
    Ich habe nichts. Überhaupt nichts. Ich habe Danny Finley getötet. Ich schloss die Augen und ließ mich wegtragen. Ich war nicht verletzt. Nicht ernsthaft. Es waren nur Steine. Ich bekam wieder Luft. Ich wurde über den Boden geschleift, an Armen und Beinen getragen, dann auf den Rücken eines Mannes gehievt. Eine Tür. Ein Wohnzimmer. Ein Sofa. Ich spürte etwas im Kreuz, wie ein vergessenes Kinderspielzeug. Jemand schob mir ein Kissen unter den Kopf. Eine Hand in meinem Nacken. Ein warmes Tuch auf meinem Gesicht, Wasser aus einem Glas an meinen zusammengebissenen Zähnen. Etwas Kaltes lief an meinem Hals hinunter und kroch wie eine Schlange bis zur Schulter. Ich habe Danny Finley getötet. Fieber. Zittern. Draußen bellte ein Polizeilautsprecher Befehle. Ich sah Dannys erstaunten Blick vor mir. Wie er nach vorn fiel. In den Rücken getroffen. Seinen Bruder hatten Loyalisten getötet, ihn selbst ein Republikaner. Am 14. August 1969 habe ich Danny Finley ermordet.
    Das war unser Ende. Auch meines.
    *
    Ich blieb fast eine Woche im Bett. Fianna und Männer der Belfast-Brigade hielten abwechselnd an der Straßenecke Wache. An meinem Bett saß Tag und Nacht Jim O’Leary, ein Sprengmeister des Zweiten Bataillons. Als ich die Augen aufschlug, hieß er mich willkommen, wie auf der Schwelle seinesHauses. Jim war quasi ein Verwandter. Seine Frau Cathy liebte Sheila wie eine Mutter.
    Am dritten Tag trank ich eine Tasse Tee und aß ein halbes Toastbrot. Ich war nicht zu Hause. Ich kannte weder das Zimmer noch Lise, die ältere Frau, die mich pflegte. Am vierten Tag erfuhr ich, dass Mama, mein Bruder und meine Schwester ins Exil gegangen waren. Sheila hatte sie über die Grenze zu einer Tante nach Drogheda gebracht. Róisín, Mary und Áine weinten. Sie wollten nicht mehr fliehen. Sara kotzte während der ganzen Fahrt, Klein-Kevin hatte sich in der Werkstatt versteckt, um nicht wegzumüssen. Mama sagte, danach gingen sie nirgends mehr hin.

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