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Rückkehr nach Killybegs

Rückkehr nach Killybegs

Titel: Rückkehr nach Killybegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sorj Chalandon
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eine Harfe unter einer Krone.
    »Die Jerrys, die Krauts, den Fritz, wach mal auf, Kleiner!«
    »Die Deutschen«, soufflierte mein Onkel.
    Der Typ tastete mich am Rücken ab, zwischen den Schenkeln, unter den waagrecht ausgestreckten Armen.
    »Weißt du nicht, dass wir im Krieg sind?«
    »Doch, das weiß ich.«
    Er öffnete meine Tasche und wühlte darin herum, als wäre es seine.
    »Nein, du weißt gar nichts, Ire. Überhaupt nichts!«, rief der Soldat, der den Lastwagen durchsuchte.
    Der war echt. Ein Engländer aus England. Mein Vater hatte oft ihre Art zu reden nachgemacht, mit der Oberlippe an den Zähnen und der lächerlichen Aussprache der Radioansager.
    »Schau mir nicht in die Augen, Ire! Los, dreh dich um! Dreht euch alle um, Hände nach oben und Fresse an die Plane!«
    Mein Onkel schnappte mich und drehte mich um. Wir hatten alle die Hände erhoben.
    »Das ist doch euer Trick, uns in den Rücken zu schießen, oder?«
    Ich spürte ihn hinter mir.
    »Du hast doch auch Beifall geklatscht, als die IRA-Schweine uns letztes Jahr den Krieg erklärt haben?«
    Ich wollte nicht antworten.
    »Weißt du, dass sie in Kinos Bomben legen, in London, in Manchester? In Postämtern? In Bahnhöfen? In der U-Bahn? Hast du davon schon gehört? Was hältst du davon, Ire?«
    »Er ist doch erst sechzehn«, warf meine Mutter ein.
    »Maul halten! Ich rede mit dem Rotzlöffel!«
    »Hör auf damit«, murmelte der andere Soldat ruhig.
    Er hieß mich umdrehen und die Arme senken. Gab mir die durchwühlte Tasche zurück.
    »Willst du uns helfen, den Krieg zu gewinnen, hä, Rotzlöffel?«
    Ich schaute auf seine dreckigen Schuhe. Und dachte ganz fest an meinen Vater.
    »Sonst habt ihr hier nämlich nichts verloren.«
    Ich sah wieder hoch.
    »Verräter werden bei uns aufgeknüpft. Wir haben mit Hitler genug zu tun, klar?« Er wurde immer lauter. »Okay, ihr hört jetzt mal zu. Ihr betretet das Vereinigte Königreich. Hier gibt’s keinen De Valera, keine Neutralität, den ganzen Papistenquatsch. Und wenn euch das nicht passt, könnt ihr gleich wieder gehen!«
    Mein Blick traf den von Lawrence. Stumm, die Stirn an der Plane, die Hände noch immer erhoben, bedeutete er mir zu schweigen.
    Also senkte ich den Kopf, wie er, wie Mama, wie meine Brüder und Schwestern. Wie alle am Seitenstreifen wartenden Iren.
    Mein Onkel lebte in der Nähe von Cliftonville im Norden von Belfast. Ein katholisches Ghetto, eine nationalistische Bastion, eingekreist von protestantischen, der britischen Kronegegenüber loyalen Vierteln. Er war Witwer, kinderlos und besaß zwei Häuser nebeneinander mit einem gemeinsamen Hof. Das erste war seine Schornsteinfegerwerkstatt, im anderen wohnte er. Ich hatte noch nie so gerade Straßen gesehen, solche Aneinanderreihungen von Backsteinmauern, düster, rechtwinkelig, endlos. Jeder Familie ihr Kaninchenstall. Alle strikt gleich. Eine Eingangstür, zwei Fenster im Erdgeschoss, zwei im ersten Stock, ein Schieferdach und ein hoher Schornstein. Nichts Buntes, keine Fassaden in knalligem Grün, Gelb oder Blau wie bei uns, überall das schmutzige, schwärzliche Rot der Belfaster Ziegel. Nur die Vorhänge lächelten ein wenig. Sogar die betenden Jungfrauen in den Fenstern waren überall gleich, blau-weiß und aus Gips, von Hanlon’s Gemüsehandel.
    Wir wohnten in der Sandy Street 19. Meine Mutter zog mit Róisín, Mary, Áine und Baby Sara in eines der oberen Zimmer. Klein-Kevin, Brian und Niall nahmen das andere mit dem Fenster zum Hof. Séanna und ich legten unsere Matratze ins Wohnzimmer im Erdgeschoss. Lachend rannten wir die schmale Treppe hinauf und hinunter, nahmen das Haus in Besitz. In der Küche fehlte eine Fensterscheibe, die durch eine Holzplatte ersetzt wurde. Alles war feucht, die Tapete löste sich von den Wänden, der Kamin zog schlecht, aber wir hatten ein Dach über dem Kopf.
    Für unseren ersten Abend in Belfast hatte Lawrence Lammragout mit Kohl gekocht. Er würde von nun an in seiner Werkstatt wohnen, aber unsere Schlüssel behalten. In Belfast versperrt man die Haustür. Wir setzten uns auf den Boden, die Teller auf den Knien. Ich hatte Hunger. Mein Onkel sprach sein eigenes Tischgebet:
    »Lieber Gott, lass unsere Teller und Becher immer voll sein. Lass das Dach über unserem Kopf immer fest genug sein. Und hole uns eine halbe Stunde, bevor der Teufel von unserem Tod erfährt, ins Paradies. Amen.«
    Mama verdrehte die Augen. Sie mochte es nicht, wenn man über den Teufel Witze machte. Wir bekreuzigten uns. Ich

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