Rueckkehr nach River's End
Jamie, sobald sie sich in den tiefen Wäldern aufhielt, die Kiefern roch, den sanften Moderduft, den Teppich aus Zapfen und Nadeln unter ihren Füßen spürte. »Aber es kann auch spannend sein, zum Beispiel gibt es wunderschöne Häuser, Palmen, Geschäfte, Restaurants und Galerien.«
»Ist meine Mutter deshalb nach Los Angeles gegangen? Damit sie einkaufen, in Restaurants essen und in einem schönen Haus leben konnte?«
Jamie erschrak. Die Frage hatte sie eiskalt erwischt, wie ein unerwarteter Schlag in den Nacken, von dem sie sich ganz benommen fühlte. »Ich - sie... Julie wollte Schauspielerin werden. Deshalb war es ganz natürlich, daß sie dorthin zog.«
»Wenn sie zu Hause geblieben wäre, würde sie heute noch leben.«
»Oh, Liwy.« Jamie streckte eine Hand nach ihr aus, doch Olivia wich einen Schritt zurück.
»Du muss t mir versprechen, daß du niemandem etwas verrätst. Weder Großmama noch Großpapa oder Onkel David. Niemandem.«
»Aber Livvy...«
»Du muss t es versprechen.« Panik hatte sich in ihre Stimme geschlichen und in ihren Augen glänzten Tränen. »Wenn du mir versprichst, daß du nichts sagst, dann tust du es auch nicht.«
»In Ordnung, Liebling.«
»Ich bin kein Baby mehr.« Trotzdem ließ sich Olivia in den Arm nehmen. »Niemand spricht über sie, alle Bilder von ihr sind aus dem Haus verschwunden. Wenn ich mich nicht ganz fest darauf konzentriere, kann ich mich kaum an etwas erinnern. Und dann gerät alles durcheinander.«
»Wir wollten nicht, daß du leidest. Als sie starb, warst du doch noch so klein.«
»Als er sie getötet hat.« Olivia zog sich zurück. Ihre Augen waren jetzt trocken und funkelten im trüben Abendlicht. »Als mein Vater sie ermordet hat. Du muss t es laut aussprechen.«
»Als Sam Tanner sie umgebracht hat.«
Der Schmerz keimte erschreckend frisch in ihr auf. Jamie gab ihren Gefühlen nach, setzte sich neben einen morschen Baumstamm und atmete langsam aus. Es kümmerte sie nicht, daß der Boden feucht war.
»Nur weil wir nicht darüber sprechen, heißt das noch lange nicht, daß wir sie nicht mehr lieben, Livvy. Vielleicht bedeutet es sogar, daß wir sie zu sehr lieben. Ich weiß es nicht.«
»Denkst du viel an sie?«
»Ja.« Jamie griff nach Olivias Hand und hielt sie fest umklammert. »Ja, das tue ich. Wir standen uns sehr nahe. Ich vermisse sie jeden Tag.«
Mit einem Nicken setzte sich Olivia zu ihr und spielte an ihrer Taschenlampe herum. »Denkst du auch manchmal an ihn?«
Jamie schloss die Augen. O Gott, was sollte sie tun, wie sollte sie sich in dieser Situation verhalten? »Ich versuche, es zu vermeiden.«
»Aber du denkst an ihn?«
»Ja.«
»Ist er auch tot?«
»Nein.« Nervös rieb sich Jamie mit einer Hand über den Mund. »Er ist im Gefängnis.«
»Warum hat er sie getötet?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht. Es hilft uns nicht weiter, darüber nachzugrübeln, Livvy, weil wir es niemals werden verstehen können. Es gibt keine Erklärung.«
»Früher hat er mir Geschichten erzählt, hat mich Huckepack getragen. Daran erinnere ich mich. Ich hatte es vergessen, aber jetzt ist es mir wieder eingefallen.«
Sie spielte weiter mit der Lampe, ließ das Licht über den verrotteten Stamm tanzen, auf dem Sprösslinge wuchsen, die sie als Hemlock und Fichte identifizierte. Rosetten aus Baummoos wucherten darüber und vermischten sich mit dichten Flechtenbüscheln. Es beruhigte sie, etwas zu betrachten, das ihr vertraut war, dessen Namen sie kannte.
»Dann wurde er krank und ging fort. Das hat Mama mir damals erzählt, aber es war nicht die Wahrheit. Es ging um Drogen.«
»Wo hast du diese Dinge gehört?«
»Ist es wahr?« Sie blickte von dem Stamm und dem aufkeimenden Leben auf. »Tante Jamie, ich muss wissen, ob es stimmt.«
»Ja, es stimmt. Es tut mir leid, daß dir diese Dinge passiert sind, daß sie Julie passiert sind, und mir, uns allen. Wir können es aber nicht ändern, Livvy. Wir müssen so gut wie möglich weiterleben.«
»Ist das der Grund, warum ich euch nie besuchen darf? Warum Großmama mich unterrichtet, und ich nicht mit anderen Kindern in die Schule gehe? Warum mein Name heute MacBride anstatt Tanner lautet?«
Jamie seufzte. Sie hörte den Schrei einer Eule und ein Rascheln im Unterholz. Jäger und Gejagte, dachte sie. Sie alle haben nur das Ziel, die Nacht zu überleben. »Wir beschlossen damals, daß es am besten wäre, dich nicht den Medien, dem Tratsch und den Spekulationen auszusetzen. Deine Mutter
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