Rücksichtslos
den Knoten und befreite das schreiende Kind. Ungeschickt hielt sie es mit beiden Händen vor sich und starrte es hilflos an. Es mochte etwa drei Monate alt sein. Thomas nahm es ihr mit dem geübten Griff eines zweifachen Familienvaters ab, öffnete seine Jacke und zog diese schützend um das Kind herum.
Polizeisirenen drangen an Katharinas Ohren, während sie in der Jacke der Toten vergeblich nach einem Ausweis oder anderen Papieren suchte. Innerhalb der nächsten Viertelstunde war der gesamte Park abgesperrt und von Beamten in Uniform und in Zivil bevölkert.
„ Was hat sie dir erzählen können?“, fragte Thomas.
„ Nur, dass ein großer kräftiger Mann für die Morde an den Frauen verantwortlich sei. Der Gönner, wie sie ihn nannte. Dann wurde sie erschossen. Leider bevor sie mir den Aufenthaltsort nennen konnte“, sie stockte. „Und dass er anscheinend noch mehr Frauen in Gewahrsam hat, verdammt!“ Wütend kickte sie in einen Schneehaufen.
Die drei Kollegen, die nach dem Schützen gesucht hatten, stießen zu ihnen.
„ Und?“, fragte Thomas.
„ Nichts“, antwortete Diederich, ein etwa vierzigjähriger Kriminalkommissar, kopfschüttelnd. „Das heißt, wir haben den Schützen nicht gesehen. Allerdings fanden wir etwa dreißig Meter von hier entfernt hinter einem Baum vier Patronenhülsen.“ Er reichte sie ihnen in einer Tüte. „Eine neun Millimeter RWS. Und direkt daneben einige Schuhabdrücke im Schnee. Uwe und Jens verfolgen die Spuren.“
„ Wenigstens was“, meinte Thomas. „Wenn die Spusi da ist, schicken wir sofort jemanden hin. Sperrt den Bereich ab, damit dort keiner herumtrampelt.“
Katharina stand noch immer benommen neben der Leiche. Das Schreien des Kindes drang wie gefiltert zu ihr durch. Sie ging in die Hocke, schloss die Augen der jungen Frau und schwor sich, den Mörder zu finden. Anschließend stand sie wieder auf und straffte entschlossen ihre Schultern.
In der Zwischenzeit war Pohl eingetroffen. Er untersuchte die Tote und wenig später wurde sie abtransportiert.
„ Wenigstens hier gibt’s keine Frage, wann und wie sie umgebracht wurde. Bis später.“ Mit diesen Worten verschwand der Rechtsmediziner so schnell, wie er gekommen war.
Na toll, dachte Katharina. Manchmal ging ihr Pohl mit seinen Äußerungen doch auf die Nerven.
Thomas versuchte verzweifelt, das Kind zu beruhigen. Er schaukelte es hin und her. Doch es war, als würde es spüren, dass seine Mutter nicht mehr am Leben war. Aber war diese Frau überhaupt die Mutter gewesen? Wer war sie? Und warum wusste sie etwas über die toten Frauen? Sie hatte eindeutig im Plural gesprochen.
„ Sie sagte, sie wüsste, wer die Frauen umgebracht hat. Mehrzahl. Unsere Annahme, dass die Morde an den beiden anderen Frauen zusammenhängen, scheint somit korrekt zu sein.“
„ Nur bringt uns das auch nicht weiter.“
„ Nein.“ Mittlerweile hatte er dem Baby seinen Zeigefinger in den Mund gesteckt und es saugte gierig daran. „Hoffentlich kommt gleich jemand vom Jugendamt. Das Kleine hat Hunger.“
Katharina starrte fasziniert auf den kleinen Mund, der Thomas’ Finger umschloss, und verspürte einen kleinen Stich in der Herzgegend. Schon bevor sie Philipp kennengelernt hatte, war ihr sehnlichster Wunsch gewesen, eine eigene Familie zu haben. Nach ausführlichen Gesprächen hatten sie sich darauf geeinigt, dass sie nach der Hochzeit die Pille absetzen würde. Als sie nun dieses hilflose Bündel vor sich sah, das von einer Sekunde zur anderen seiner Mutter beraubt worden war, überkam sie mit einem Mal Zweifel. Was wäre, wenn ihr etwas passieren würde? Wenn sie ihr Kind als Halbwaise zurücklassen müsste. Thomas sprach sie an, doch sie reagierte nicht. Eine schreckliche Kälte kroch durch ihren Körper und sie begann, unkontrolliert zu zittern. Das Bild der toten Frau, das schmerzverzerrte, erstaunte Gesicht, hatte sich tief in ihr Gedächtnis eingebrannt. Nach ihrer eben überstandenen Erkrankung war ihr das gerade Geschehene zu viel. Sie bemerkte kaum, dass Thomas das Baby einer Kollegin übergab und sie zu einem Krankenwagen führte.
„ Sie steht unter Schock.“ Thomas schob sie zur Hecktür und setzte sie dort hin. Dann verschwand er wieder, da noch einiges zu regeln war.
Schock? Dieses eine Wort durchdrang den Nebel in ihrem Gehirn und sie begann, sich gegen dieses sie lähmende Gefühl zu wehren. Herrgott nochmal! Sie musste sich zusammen reißen. Mit jedem Tag wurde sie jämmerlicher. Aber sie würde
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