Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

um die Konsultation mit mir zu vereinbaren. Abgesehen von dieser stummen Empörung war Stevens einziger Beitrag zu dem Treffen in dem modischen Wohnzimmer die gelegentliche Wiederholung seiner Diagnose. »Ein kompletter Spinner, dieser Typ«, stieß er hervor, dann nagte er wieder mürrisch an seinen Fingernägeln. »Den müsste man echt wegsperren.« Diese persönlichen Angriffe steigerten nur meinen Appetit auf das erste Gespräch mit seinem Gegenspieler.
    Einige Tage später traf ich mich mit Neil. Halb rechnete ich damit, dass er diese Zusammenkunft als eine Art repressive Überwachung auffassen würde – es kam nicht selten vor, dass meine regulären Patienten vor mir zurückwichen wie vor einem Raubtier –, doch während unseres gemeinsamen Mittagessens musterte er mich offenkundig amüsiert mit kühlen, wachen Augen, als ginge es um ein Interview für ein Unterhaltungsmagazin statt um eine Bewertung seiner geistigen Gesundheit. Er war mehrere Jahre jünger als Patsy und Steven und ein weitaus entspannterer Gesprächspartner als Patsys Mann. Dennoch war seine Einschätzung seiner Bedeutung für Patsys Leben zweifellos getrübt von der fixen Idee einer fiktiven Liebesaffäre mit der Sängerin und der daraus entspringenden Überzeugung, dass eine eifersüchtige oder verständnislose Welt (allen voran Steven) ihm sein Glück streitig machen wollte. Um Neils Vertrauen zu gewinnen, sah ich keine andere Möglichkeit, als ihn zumindest in der ersten Kennenlernphase in dieser Überzeugung zu bestärken. Mit diesem Vorsatz gab ich ihm Patsys Textblatt und bat ihn um die Deutung einiger ihrer Lieder – ein Experiment, das ich später bei ihrem Mann wiederholte.
    Der himmelweite Unterschied zwischen den Auffassungen der beiden rief Erinnerungen an Paulsons leichengespickte Lektion über den »Tod des Autors« in mir wach, bei denen wir damals über die Behauptung diskutiert hatten, dass theoretisch jede Lektüre so gültig ist wie eine andere. Aus Sicht dieser Denkrichtung gab es keine finale Lesart eines Textes, auch nicht die der Person, die ihn geschrieben hatte. Schon damals fand ich diese Idee verstörend. Wie musste es da erst dem Ehemann einer Liedermacherin ergehen, deren an ihn gerichtete Liebesbriefe ein anderer Mann für sich reklamierte?
    EINE AUSWAHL VON PATSY DIMARCOS SONGTEXTEN
    Diese Texte stammen aus dem Album Patsy und werden hier mit freundlicher Genehmigung von Kookabura Music abgedruckt. Deutungen von ihrem Mann Steven Rowlands und ihrem Postboten und Stalker Neil Ayer.
Patsys Text :
Stevens Deutung:
Neils Deutung:
(1) Worauf ich gewartet
habe
In meinem Leben ist ein Loch in deiner Form/Und mein ganzes Leben war ein Warten auf dich/Jetzt verbringe ich die ganze Nacht wach für dich/Sag mir laut und deutlich/Dass du der bist, auf den ich gewartet habe.

    Irgendwann, ich gebe es zu, wird die Ensamkeit zum Freund/
Ich wollte mich nicht von dem Schmerz befreien, niemand zu haben/Wollte nicht wissen, wie gut es sein kann/Bin froh, dass du zu mir durchgedrungen bist/In meinem Leben ist ein Loch
etc.
Eine Betrachtung der Ehe. Patsy sinnt über die Abwehrhaltung nach, mit der sie sich nach dem frühzeitigen Tod ihrer Eltern gegen Schmerz und fehlende Liebe abgeschottet hat; erst durch die Begegnung und Ehe mit Steven wurde diese Abwehrhaltung aufgebrochen.
Patsys Reaktion auf die Begegnung mit Neil. Die Zeile »the whole of my life has been a wait for you« könnte ein ironischer Verweis darauf sein, dass er die Post an diesem ersten Morgen zu spät zugestellt hat. Der Rest spricht für sich: Es geht um ihren Pakt mit Neil und seine Aufgabe, sie dazu zu bringen, sich nicht mit einer beengenden Ehe zufriedenzugeben.
(2) Was Böses würde dir guttun
So fixiert darauf, respektabel zu sein/Manchmal wirkst du richtig asexuell/Aber um dich aus der Fassung zu bringen/Baby, würde ich gern diesen Wandel erleben/Ich weiß, dir würde es nicht gefallen/Nur einem Teil von dir/Dem Teil von dir, der weiß/Dass dir was Böses guttun würde
Ein offener Blick auf die sexuelle Situation des frisch verheirateten Paars. Patsy, die Künstlerin, wird als die forderndere Partnerin gezeichnet, doch die gezeigte Leidenschaft wirkt schockierend – vor allem auf den »respektablen« Steven, den der Text eher verlegen macht.
Eine ausdrückliche Aufforderung an Neil, den seine beruflichen Pflichten davon abhalten, Patsy diese Leidenschaft zu beweisen – daher die Einladung zum »Wandel« vom Postboten zum privaten Besucher …
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