Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
geben … mit ihrem tollen Mann und ihrer kleinen Tochter …« Dann brach sie in Tränen aus. Ich konnte mich gut in sie hineinversetzen: kein Partner (sie ist älter als ich und sagt, dass es ihr schwerfällt, einen Mann zu finden, dem sie vertrauen kann), keine berufliche Stabilität und ein schlimmer Minderwertigkeitskomplex. »Du bist doch Psychiater, warum hat sie all die guten Gene abgekriegt?«
Ich musste daran denken, dass sich Nicholas Hirst um diese Zeit vor fünfunddreißig Jahren wohl die gleiche Frage zu seinem Bruder Richard gestellt hatte. Ich machte ein, zwei tröstende Bemerkungen, gab ihr meine Visitenkarte und hoffte, dass es nicht nach einem Angebot fachlicher, sondern persönlicher Hilfe aussah. Keine Ahnung, wie gut mir das gelungen ist. Es ist mir noch nie leichtgefallen, außerhalb der Praxis mit Frauen zu reden.
Als ich wieder im Haus war, rief Richard aus New York an. An Neujahr erscheint ein Buch von ihm. Der Vorverkauf läuft glänzend.
1985
G
Ein neuer Anzug; habe ich den letzten nicht erst neulich bekommen? Sie hatten mich vorher zum Abmessen geschickt, also war es keine große Überraschung, aber verdammt, ich bin jetzt fünfunddreißig. Und so fühle ich mich auch.
K
Nur ich, Mum und Dad. Gleiche Stelle, gleiche Welle. Ich verbrachte fast den ganzen Nachmittag mit einem Zauberwürfel. Jeden Augenblick erwarte ich Richards Anruf aus New York, dass er seinen eigenen geknackt hat.
E
Ich habe keine Lust mehr auf das Tagebuch. Vielleicht ist das das Jahr, in dem ich damit aufhöre. Eigentlich hatte ich auch keine Lust heimzufahren, aber mir fehlte der Mut, es zu lassen.
1986
G
Ein CD -Spieler. Mum und Dad sind immer noch unglaublich großzügig, obwohl ich mir solche Dinge inzwischen selbst gut leisten kann, zumal ich jetzt der Traumanalytiker der Reichen und Berühmten bin. Ich spiele mit dem Gedanken, ihn ihnen zurückzugeben – nicht, weil ich ihn nicht will –, aber ich weiß gar nicht, ob Dad ihn überhaupt benutzen würde. Auf den Geschenkanhänger schrieb er: »Natürlich nicht als Ersatz für deinen Plattenspieler gedacht.«
K
Wir sprachen über die noch immer existierende Bedrohung durch einen Atomkrieg. Offenbar stehen in Großbritannien und Amerika Tausende von Soldaten abrufbereit, wahrscheinlich auch Johnny. Allerdings wird uns auch eine ordentliche Verteidigungslinie nicht viel helfen, wenn Gorbatschow eine Atomrakete auf uns abfeuert. Johnny ist inzwischen bestimmt zum Sergeant oder was anderem aufgestiegen. Es ist unwahrscheinlich, dass ich ihn je wiedersehe.
Ansonsten ging es nur um die Sache mit Lily. Ich erzählte ihnen fast die ganze Geschichte. Den mystischen Quatsch, von dem Dad nichts hält, und die Kompromittierung meiner Prinzipien spielte ich herunter. Außerdem ließ ich die Stellen aus, wo ich mir fast eingeredet hätte, dass ich mich in Lily verliebt hatte, nur um dann doch wieder festzustellen, dass es nicht so richtig passte. Einfach nicht das Richtige für die Feiertage.
E
Dieses Jahr fand ich ein gutes Geschenk für Mum: ein Trainingsrad. Wie es der Zufall wollte, lief am Nachmittag im Fernsehen Mr. Imperfect , und die jüngere Lily blickte mir mit geneigtem Kopf entgegen. Mir wurde klar, dass ich ab jetzt eher Gelegenheit haben werde, sie in einem Film zu sehen als persönlich. Ich hielt Ausschau nach dem großen Muttermal am Kinn, das sie erwähnt hat, aber ich konnte nichts erkennen. Vielleicht sieht man das nur auf einer Kinoleinwand.
1987
G
Das vorhersehbarste Geschenk in diesem Jahr war eine Ausgabe von Richards Buch Geistesangelegenheiten , das inzwischen als Taschenbuch erschienen ist und noch immer auf Platz zwölf der Bestsellerliste steht. In dem Epilog über den Fall Genelli wird kurz auf meinen Ausflug in Medizinmanngefilde angespielt. Fürs Erste der Gipfel meiner Buchkarriere. Richard hat es geschickt, weil ich ihm für die Neujahrsparty abgesagt habe, bei der er seinen Erfolg mit einem Riesenrummel feiern will. Sicher könnte ich nach New York fliegen, aber die verschiedensten Gründe sprechen dagegen. Natürlich hatte ich das Buch bereits. Habe es gekauft, sobald es in den Läden war.
K/E
Dad und ich haben dieses Jahr ein ungewöhnliches Geschenk für Mum gekauft: eine Woche Wellnessurlaub. In den letzten Jahren ist sie nämlich zur Gesundheitsfanatikerin geworden. Wie sagt Dad so schön? »Wenn man sich in unserem Alter ein neues Hobby zulegt, dann kann man gleich die Gesundheit nehmen.« Normalerweise wäre es eine
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