Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
komische Zeit zum Verreisen, aber im Hinblick auf Mums alten Widerwillen gegen die Weihnachtszeit ist es wohl eine gute Idee. Am Vormittag haben wir mit ihr telefoniert, dann machten wir eine Fahrt durch ausgestorbene Straßen.
Nach dem Mittagessen stiegen wir wieder ins Auto, um ohne bestimmtes Ziel herumzugondeln. Wir sprachen darüber, wie sich die Landschaft seit meiner Kindheit gewandelt hat, aber wenn man bedenkt, dass das (unglaublicherweise) schon dreißig Jahre her ist, dann ist das eigentlich Erstaunliche wohl, dass so vieles unverändert ist. Dreißig Jahre sind fast ein halbes Menschenleben, aber in Cambridgeshire und East Anglia ist die Zeit praktisch stehen geblieben. Irgendwie eine unheimliche Vorstellung, als hätte man die Jahre kaum registriert, doch letztlich ist es genauso unheimlich, wenn sich alles verändert. Man kann nicht gewinnen, außer man hört auf zu denken.
Zu Hause tranken wir Brandy zu Songs von Joni Mitchell. Ihre neue Platte ist nicht besonders, die Stimme ist verdorben vom Rauchen. Trotzdem hörten wir aufmerksam zu, und als Dad in der ersten Minute eines Stücks husten musste, ließen wir es noch mal von vorn laufen. Gegen Ende sprang die Platte, und ich stand auf, um die Nadel neu aufzusetzen. Dad schlief tief und fest.
1988
Ein neuer Computer.
Wir besuchten Mum in der Aussegnungshalle. Dann führten wir ein langes Gespräch.
Ich glaube, das ist der letzte Eintrag in dieses Buch.
Kaum zwei Jahre später war auch mein Vater tot. Sobald die Lunge das Signal gegeben hatte, kapitulierten rasch auch die anderen Glieder in der Weisungskette und schalteten nacheinander ab wie fallende Dominosteine. Sein langwieriges Sterben war das Gegenteil vom plötzlichen Tod meiner Mutter. Ihr Zusammenbruch im Lebensmittelladen war das letzte Beispiel der abrupten Handlungsweise, mit der ich nie zurechtgekommen war; der Niedergang meines Vaters war ein geordneter Ablauf von Ursachen und Wirkungen. Insofern war die Art des Ablebens typisch für beide.
Was Mum anging, wusste ich nicht, ob ich das tröstlich finden sollte oder nicht. Sicherlich hätte sie es nie ertragen, dem Würgegriff einer langsamen, mörderischen Krankheit ausgesetzt zu sein wie Dad. Und da sie in ihrem Glück und ihrer Stabilität ganz von ihm abhing, hätte sie sicher eine schlechte Witwe abgegeben. Daher war es wohl gar nicht so schlecht, dass sie als Erste abtrat, obwohl auch er es nicht lange ohne sie aushielt. Vielleicht war es in einem derart fortgeschrittenen Stadium der Liebe und des Lebens unvermeidlich, dass sie einander gleichermaßen brauchten. Andererseits war ihr Tod ungeheuer frustrierend und hinterließ in meinem Inneren ein Gefühl von Verschwendung und ungelösten Knoten, wie es sonst eher beim Tod eines jüngeren Menschen auftaucht. Auch wenn man noch so viel darüber nachsinnt und sich sogar darauf vorbereitet, den Verlust eines Elternteils kann man sich genauso wenig vorstellen wie den eines Arms und auch aus dem gleichen Grund: Die Gewohnheit eines ganzen Lebens ist mehr als eine Gewohnheit.
Patienten, die im Zusammenhang mit einem Trauerfall unter Depressionen litten, klagten mir (wie auch Rose) immer wieder, dass etwas ungesagt geblieben war. »Ich konnte ihm nicht mehr erklären …«, »Es war keine Gelegenheit, darüber zu reden …« Dieses Bedauern wird immer in einem Ton ausgedrückt, der Selbstvorwürfe mit einem Gefühl von Ungerechtigkeit verbindet, und findet einen mehr als deutlichen Widerhall in den zahllosen Gedichten und Liedern, die uns drängen, die wichtigen Dinge nicht aufzuschieben, bis es zu spät ist. Aber all diese Patienten hatten diese allzu bekannte Lektion nicht gelernt, und 1988 musste ich feststellen, dass ich auch nichts von ihnen gelernt hatte.
So war es, angemessenerweise wohl, mein Dad – mein engster Vertrauter –, der die großen Verständnislücken schließen musste, die zum Zeitpunkt ihres Todes noch immer zwischen Mum und mir klafften. Am Weihnachtsnachmittag, nach dem Besuch in der Aussegnungshalle, den wir beide behandelten wie einen üblichen Teil des Feiertagsablaufs, brach er das Schweigen und begann das »lange Gespräch«, das ich am Abend als letzten Eintrag in mein Jahresbuch notierte. Er fing in geschäftsmäßigem Ton von dem Begräbnis an, das für den Tag vor Silvester angesetzt war. Ich begriff das als seine Art zu zeigen, dass er sich an die Vorstellung gewöhnt hatte, die noch vor einer Woche undenkbar gewesen wäre. Ich erinnerte mich an die
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