Ruegen Ranen Rachedurst
Wellen näher kennenzulernen. Dreißig bis vierzig Minuten dauerte eine Tauchfahrt, so hatte ihr der Kellner Heiko erzählt.
Die Radstrecke von Lauterbach nach Sellin war schon eine sportliche Herausforderung. Das war gerade die richtige Unternehmung für einen angebrochenen Tag.
Das Wetter war gut. Lydia hatte ein mittleres Tempo angeschlagen und sich dabei ausgerechnet, dass sie am Abend wieder zurück sein konnte, falls sie sich nicht noch dazu entschloss, durch Sellin zu bummeln und vielleicht die Aussicht auf das Meer noch länger zu genießen. Sie brauchte sich um die Heimfahrt keine Gedanken zu machen, da sie jederzeit den Rücktransportdienst vom „Rügenlive Miet- und Ausflugsservice“ in Anspruch nehmen konnte.
Als Lydia am Ende der sehenswerten Seebrücke in Sellin ankam, hatte sie Glück. Die Tauchgondel war gerade aufgestiegen und etwa dreißig Personen verließen die Tauch- und Bildungseinrichtung. Die Leute sahen sehr zufrieden aus. Lydia hörte sie über die Eindrücke reden, die sie gewonnen hatten. Vier Meter unter der Wasseroberfläche und damit einen Meter über dem Meeresboden seien sie gewesen, meinte einer von ihnen. „Was mich ja wundert ist, dass ich keinerlei Druckveränderung gespürt habe!“, meinte ein anderer.
„ Aber das ist doch der Witz dabei!“, gab dessen Frau zurück.
„ Wieso?“
„ Stand doch da auf der einen Tafel zu lesen: Es herrscht jederzeit derselbe Druck wie über Wasser. Und auch, dass Seekrankheit ausgeschlossen ist, weil sich die Tauchgondel nicht seitwärts bewegt und damit nicht schlingert.“
„ Auf die Tafel habe ich gar nicht geachtet!“
„ Aber ich – und zwar schon, bevor wir den Besucherraum betreten haben. Glaubst du vielleicht, ich wäre sonst überhaupt mit in die Tiefe gegangen, wo mir doch sonst schon schlecht wird, wenn ich in einem Wagen mit zu weicher Federung oder in einem Reisebus mitfahre?“
„ Man scheint hier ja an alles gedacht zu haben!“, ging es Lydia durch den Kopf. Der Andrang für die nächste Tauchfahrt war ziemlich groß.
Einige wollten anscheinend als Erste einsteigen, um sich den besten Platz zu sichern. Lydia seufzte. Diese Drängelei war ihr total zuwider, und sie hielt sich etwas zurück. Plötzlich wurde sie von hinten ziemlich ungestüm angerempelt, sodass sie fast ins Stolpern geriet. Sie hatte das Gefühl, einen Ellenbogen oder Regenschirm in den Rücken gestoßen zu bekommen. Auf jeden Fall war es etwas ziemlich Hartes.
Lydia drehte sich um und sah in die missmutigen Gesichtszüge einer Frau, die sie auf rund fünfzig Jahre schätzte. Neben den tief zerfurchten, sehr unfreundlich wirkenden Gesichtszügen war das Auffälligste an dieser Frau das rötliche Haar, das in hervorstechender Weise mit der blassblauen Windjacke kontrastierte, die sie trug.
„ Etwas vorsichtiger, bitte!“, sagte Lydia, nachdem dann auch noch ihr Fußgelenk unter der ungestümen Art der Rothaarigen zu leiden gehabt hatte. Solche Verhaltensweisen erlebte sie bei Konzerten öfter, da sie mit ihrer Größe von nur 1,58 m gerne mal übersehen wurde.
„ Tut mir leid!“, knurrte die Rothaarige auf eine Weise, die Lydia die Stirn runzeln ließ. „Ja, mein Gott, jetzt schauen Sie mich doch nicht an wie ein Auto! Kann ja wohl mal vorkommen, da braucht man sich ja nicht gleich so anzustellen.“
Lydia sah in den Augen dieser Frau ein gewisses Flackern aufleuchten, wie sie es selten zuvor bei jemandem gesehen hatte. Das war mehr als nur die ganz gewöhnliche Unausgeglichenheit, wenn man vielleicht beim Zelturlaub die Isomatte vergessen und dementsprechend schlecht geschlafen hatte oder wenn das Wetter den Urlaub verhagelte, was auf Rügen im Übrigen selten vorkam.
Jedenfalls entschied Lydia, erst einmal nichts mehr zu sagen.
Was auch immer mit der Rothaarigen los war, sie schien ihr in einem psychischen Ausnahmezustand zu sein. Eine wandelnde Bombe, die schon der kleinste Funke sofort zur Explosion bringen konnte.
„ Ist noch was?“, blaffte die Frau Lydia auch schon wieder an.
„ Nein“, beeilte sich diese zu antworten
Lydia sorgte dafür, dass während des Wartens immer ein gewisser Abstand zwischen ihnen blieb.
Am Ende muss ich mich noch entschuldigen, wenn die mir vor das Schienbein tritt, dachte die Frau des Kriminalbiologen.
Auf einmal erscholl ein Ruf aus der wartenden Menge: „Hallo Frau Grasmück, sind Sie auch hier?“
Die derart angesprochene Rothaarige nickte mit mürrischer Miene in Richtung der Rufenden und
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