Rügensommer
nicht verstehen. Sie wählte den Wagen direkt hinter der Lok und stellte sich zunächst auf die überdachte Plattform, auf der man auch während der Fahrt bleiben durfte. Dort hatte sie ständig frischeLuft und bestimmt einen richtig guten Blick. Ein schriller Pfiff des Schaffners, ein Tuten von Roland, jede Menge dicke Luft, und die alte Lokomotive setzte sich in Bewegung. Der Rhythmus des Schnaufens und Stampfens wurde rasch schneller. Das mit der frischen Luft konnte sie vergessen, es roch penetrant nach Öl. Trotzdem gefiel es ihr draußen, wo der Fahrtwind ihr den kurzen Schopf zerzausen konnte, richtig gut. Eine Familie mit zwei Kindern, die eben noch neben ihr gestanden hatte, verzog sich in das Abteil. Gut so, dann konnte Deike sich ungestört auf der Plattform bewegen und mal die Landschaft links und rechts von den Gleisen betrachten.
Sie fuhren an Beuchow und Posewald vorbei. Wer hier aussteigen wollte, musste das dem Bahnpersonal frühzeitig mitteilen, wie Deike gelesen hatte. Reguläre Haltestellen waren das nicht. So etwas gab es wohl auch nur auf einer Insel. Die Trasse schlängelte sich zwischen Waldstücken und weiten grünen Feldern hindurch. Deike war froh, ihre Sonnenbrille mit den großen Gläsern zu tragen. Der Roland-Rauch stank nämlich nicht nur, er wirbelte auch kleine Schmutzpartikel durch die Luft, Asche vermutlich. Die wollte sie keinesfalls in die Augen bekommen. Sonst sah sie wieder aus wie ein Rotbrillenaffe.
Die Abteiltür öffnete sich, und ein Mann, etwa in Deikes Alter, trat zu ihr auf die Plattform.
»Hallo!«, rief er fröhlich und in einem Ton, in dem Deike höchstens gute Bekannte begrüßen würde.
»Hallo«, gab sie zaghaft zurück.
»Was machen Sie denn hier? Wichtige Recherchen für den nächsten Artikel?« Er lehnte sich gegen die Fahrtrichtung mit dem Rücken an eine Eisenstange und sah sie interessiert an.
»Kennen wir uns?« Der Mann sah gut aus. Große ausdrucksvolle Augen, sinnliche Lippen. Unter einer Baseballkappe, derenSchirm den Nacken bedeckte, lugten kurze schwarze Haare hervor mit einem Hauch Gel darin. An den würde sie sich doch erinnern, wenn er ihr schon einmal über den Weg gelaufen wäre.
»Ich habe Ihnen neulich aus dem Wasser geholfen. In der Therme, wissen Sie noch?«
Es dämmerte ihr augenblicklich. »Sie haben mich beinahe erschlagen und gleichzeitig ertränkt!«, ereiferte sie sich.
Der Mann blieb gelassen. »Sie haben mich nicht vergessen«, rief er erfreut. »Ich bin Silvio.« Er reichte ihr die Hand.
»Deike.« Es fiel ihr schwer, eine abweisende Miene durchzuhalten, wenn sie in seine lachenden Augen sah. Sie hoffte, dass sie wenigstens durch die Sonnenbrille ein bisschen distanziert wirkte.
»Sie müssen hier langfahren, wenn der Raps blüht«, erklärte er. »Dann ist diese Strecke richtig schön.«
Noch waren die Felder grün, aber Deike konnte sich leicht vorstellen, wie herrlich es sein würde, wenn sie in kräftigem Gelb leuchten würden. »Ja, kann ich mir denken.«
»Eine Sensationsstory ist die Fahrt im Roland allerdings nicht. Ich glaube, es gibt nichts, was nicht schon über ihn geschrieben wurde.«
»Ich habe auch nicht vor, einen Artikel darüber zu machen. Jedenfalls noch nicht so bald.« Sie erzählte, für welches Heft sie arbeitete, dass sie sich gründlich auskennen musste und darum nun die Insel erkundete. Silvio war italienischer Einwanderer in der dritten Generation, wie er sich ausdrückte. Sein Großvater war aus Neapel nach Bochum gekommen, wo Silvio geboren und aufgewachsen war. Als er zwölf war, kam die Wiedervereinigung, und sein Vater, ein Maurer, der auch mit Holz umgehen und zur Not mal eine Leitung verlegen konnte, meinte, imOsten könne man viel Geld machen. So zog die Familie erst nach Stralsund und vor rund zehn Jahren nach Rügen.
»Dann kennen Sie die Insel vermutlich bis in jeden Winkel«, warf Deike ein.
»Auf jeden Fall! Wenn Sie etwas wissen wollen, fragen Sie mich. Vor allem zum Roland kann ich Ihnen alles sagen.« Er sah sie erwartungsvoll an.
Die technischen Daten der Schmalspurbahn interessierten Deike nicht ansatzweise, aber das sagte sie nicht. Viel mehr klagte sie, wie schwierig es sei, als Fremde ganz allein eine so große Insel zu erkunden. Sie gab ihm jede erdenkliche Vorlage, aber er stieg nicht darauf ein. Verstand er sie wirklich nicht, oder wollte er sie nicht verstehen? Was immer sie sagte, er bot sich ihr nicht als Fremdenführer an. Dabei drehte er doch die ganze Zeit dem
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