Rügensommer
Kreissäge an, bemüht, ihren Düsseldorfer Dialekt im Zaum zu halten. »Dat is Rheinische Muschelsuppe. Mir ham frische Muscheln vom Markt jeholt.« Sie balancierte den Topf auf einem der Zaunpfähle und tunkte den Löffel in den grauen Brei, der alles andere als appetitlich aussah, aber durchaus angenehm würzig duftete. »Mund auf!«
»Das ist wirklich lieb von Ihnen, aber …«
Die Duschel hatte den Löffel gefüllt und streckte ihn Deike entgegen. »Keine Widerrede! Probieren Sie, solange et noch heiß is.«
In letzter Sekunde öffnete Deike die Lippen, um zu verhindern, dass die Rheinische Spezialität auf ihrem Shirt und damitauch das zweite Oberteil an diesem Tag in der Waschmaschine landete.
Die Suppe war noch heiß, sehr heiß. Deike schob einen kleinen weichen Knubbel, eine Miesmuschel vermutlich, von einer Backentasche in die andere. Tränen schossen ihr in die Augen.
»Jut jewürzt, was?«
Sie nickte.
Die Duschel schob den Löffel zurück in die Schürze und packte den Topf wieder unter den Arm. »Sie können das Rezept haben, wenn Sie wollen.« Damit machte sie auch schon kehrt.
»Danke«, brachte Deike mühsam hervor, nachdem sie das Zeug geschluckt hatte. »Frau Duschel, ist das Ihr Mann, der ständig sägt?«, rief sie ihr hinterher, aber die Nachbarin hörte sie nicht mehr.
Den Abend verbrachte Deike frustriert vor dem Fernseher. Würde sie sich auf dieser Insel je wohlfühlen? Es war nicht so, dass sie nicht schon viel Schönes entdeckt hatte. Aber irgendwie schien es ihr, als wolle es ihr einfach nicht gelingen, Fuß zu fassen. Sie musste dieses eine Jahr irgendwie herumbringen. Dann konnte Hartmann ihr den Job in Spanien nicht verweigern. Das musste doch zu schaffen sein, ging es ihr zum wiederholten Mal durch den Kopf, während Günther Jauch einen Kandidaten verunsicherte, der eine Literaturfrage spontan richtig beantwortet hatte. Sie versuchte, an die schönen Dinge zu denken, an das, was ihr an Rügen gefiel. Allerdings kamen ihr sofort wieder die heimtückischen Einheimischen in den Sinn, die den Fremden offenbar an jeder Ecke Fallen stellten, um sich über sie amüsieren zu können. Ein Jahr konnte verdammt lang sein. Und es gab vermutlich noch viele Fallen, in die sie tappen würde. Sie schnaufte. Da klingelte ihr Telefon.
»Hallo?«
»Hi, Schwesterchen! Na, alles im Lot auf der Insel?«
»Natty!« Der Abend war gerettet. »Der liebe Gott hat mich erhört und mir deinen Anruf geschickt.«
»Hey, Schwesterchen, was ist denn los? Alles in Ordnung?«
»Ich werde von einer Schlabberhose tyrannisiert, mit glitschigen Muscheln gefüttert, von einer Säge um den Verstand gebracht und bin auf Rügen bereits als
die Frau mit den Flecken im Gesicht
bekannt. Aber sonst ist alles prima.« Sie schüttete ihrer Schwester das Herz aus, erzählte all die Episoden, die ihr passiert waren, und fühlte sich dabei immer besser. Schließlich musste sie sogar in Nattys Lachen einstimmen. Sie hatte ja recht, das meiste war ganz bestimmt kein Grund, verärgert zu sein, sondern Anlass, sich einfach über sich selbst zu amüsieren.
»Und du hattest die riesige Sonnenbrille auf, mit der du immer aussiehst wie Puck, die Stubenfliege?«
»Genau die.«
Natty schnappte nach Luft. »Dein Gesicht war voller Ruß und nur rund um die Augen weiträumig weiß?« Sie wollte sich ausschütten vor Lachen.
»Ich sah also aus wie ein Invers-Puck«, prustete Deike.
Die beiden alberten noch eine ganze Weile herum, bis ihr schon der Bauch wehtat.
Dann sagte Natty: »Ich kann mir die erste Mai-Woche frei nehmen. Das hat sich kurzfristig ergeben. Hast du Lust auf Besuch?«
»Aber klar! Oh, Natty, das wäre so schön.«
»Dann ist das jetzt beschlossen. Schlabberhose kann sich auf etwas gefasst machen.« Sie kicherte wieder.
Als Deike kurz darauf das Telefon in die Ladestation zurückstellte, hatte sie die allerbeste Laune. Große Schwestern waren etwas Wunderbares!
4.
Deike lenkte ihren Wagen auf den großen Parkplatz, von dem sie zu Fuß zum Königsstuhl laufen wollte. Die letzten Tage hatte sie überwiegend im Büro verbracht, von den Einladungen zur Eröffnung einer Vinothek und zur Wiedereröffnung eines Restaurants einmal abgesehen. Heute war das Wetter herrlich. Das Thermometer stand schon bei vierundzwanzig Grad und kletterte noch weiter. Genau richtig, um die berühmten Kreidefelsen zu erkunden. Der Weg war gut ausgeschildert und führte durch den Stubnitz-Wald. Alte Eichen und Buchen spendeten
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