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Rühr nicht an mein dunkles Herz (German Edition)

Rühr nicht an mein dunkles Herz (German Edition)

Titel: Rühr nicht an mein dunkles Herz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meredith Duran
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und schärfer als Glas. Sie würde für den Rest ihres Lebens über die Scherben gehen. Mit jedem Schritt wäre der Schmerz bei ihr.
    Sie zwang sich, ihm ins Gesicht zu sehen. Die Falten um seinen Mund hatten sich im vergangenen Jahr vertieft. Seine Augen sanken langsam in ihre Höhlen. Und doch war er immer noch der Alte. Papa. Sie konnte es nicht miteinander vereinbaren, dieses Gesicht, das ihr so lieb und teuer war, und den Fremden darin. Es kam ihr morbide vor, ihn anzuschauen, als starrte man einen Leichnam an, der genauso ging und sprach wie der Mann, den sie einst vergöttert hatte. »Nun, du kannst deine Tränen haben«, sagte sie. »Du kannst sie Ashmore übergeben und dir deine Freiheit erkaufen.«
    Die Überraschung in seinem Gesicht – und dann die langsame Erkenntnis, wie ein Mann, der erfährt, dass er vom Galgen verschont bleibt, widerten sie an. Als er ihr dankbar die Hand drückte, zuckte sie zusammen. Sie hatte ganz vergessen, dass er sie hielt. »Gott segne dich«, sagte er mit heiserer Stimme.
    »Ja«, gab sie bitter zurück. »Was für eine gute Tochter ich doch bin. Was für ein loyales kleines Mädchen.«
    »Du hast uns gerettet«, murmelte er. Sein Blick wurde unscharf, er sah verstört in die Ferne.
    »Bestimmt singen jetzt irgendwo Engel«, sagte sie. »Aber nicht über Ägypten.«

17
    In Wilton Crescent informierte der Butler James, dass Lydia nicht zu Hause war. Er überlegte gerade, ob er seine Karte hinterlassen oder im Salon warten sollte, als Lydia auf der Treppe erschien. »Warte«, rief sie. Schon als sie den ersten Schritt auf ihn zu machte, wusste er, dass etwas nicht stimmte. Sie bewegte sich steif, wie eine alte Frau, oder ein Mädchen, das um kalte, höfliche Würde bemüht ist. »Ich bin froh, dass du gekommen bist«, sagte sie, als sie ihn erreichte. »Leider hast du meinen Vater verpasst. Er ist nach Whitehall gefahren. Sonst hätte ich dich mit dem größten Dieb des Empire bekannt gemacht.«
    Aus der Nähe sah er, dass sie um den Mund herum und zwischen den Augen leichte Kummerfalten hatte. So ähnlich sähe sie vielleicht in dreißig Jahren aus. Doch hoffentlich nicht aus diesem Grund. »Lydia«, sagte er und streckte die Hände nach ihr aus.
    Sie ließ eine kurze Umarmung zu, entzog sich ihm dann aber und hob das Kinn, um versuchsweise zu lächeln. »Ich will dein Mitleid nicht. Zu wissen, dass ich es verdient habe, ist schon schwer genug.«
    »Was du in meinem Gesicht siehst, ist kein Mitleid.« Es war Wut auf Henry Boyce. »Ich könnte dich nie bemitleiden.«
    Sie schluckte. »Ich wünschte, ich könnte dasselbe von mir behaupten. Ich habe die Juwelen tatsächlich gefunden. Sie befanden sich die ganze Zeit über in Hartnetts Lieferung. Aber in dem ursprünglichen Versandmaterial, nicht in der Lattenkiste, die Carnelly mir geschickt hat.«
    Am liebsten hätte er sie sich geschnappt und sie aus diesem gottverdammten Haus getragen. Doch sein Instinkt mahnte ihn, mit Bedacht vorzugehen. »Es tut mir sehr leid.« Herrgott, Sprache war hier unnütz. Das Gefühl, das in ihm brodelte, war zu groß, um es in Worte zu fassen.
    Sie holte zittrig Luft. »Ich muss mir überlegen, wie es mit mir weitergehen soll.« Ihre Augen sahen feucht aus, und sie wandte sich abrupt ab und steuerte auf die Treppe zu. Nach kurzem Zögern folgte er ihr. In der ersten Etage war es still; am Ende des Flures stand eine Tür offen. Das war ihr Wohnzimmer. Als er auf der Schwelle stand, war unübersehbar, dass sie den Raum in ein Chaos verwandelt hatte. Dutzende Bücher lagen auf dem Boden verstreut. Eine Reisetasche, in die sie haufenweise Papiere gestopft hatte, stand offen auf dem Teppich. Weiter hinten, im Schlafzimmer, lagen zerwühlte Kleider auf dem Bett herum.
    Sie sank bei dem Gepäck auf die Knie und machte weiter, wo sie aufgehört hatte. »Das sind meine Artikel«, erklärte sie und stieß ein seltsames Lachen aus. »Vielleicht die letzten, die ich je schreiben werde.«
    »Rede keinen Unsinn«, sagte er ruhig. »Das war die Sünde deines Vaters. Nicht deine.«
    Sie hielt inne. »Sünde. Das ist die richtige Bezeichnung dafür. Aber ist es wirklich nur seine? Ich kann an nichts anderes mehr denken, als daran, was für ein Dummkopf ich doch bin.« Sie hob das Gesicht. »Das ist eine gewaltige Ironie, nicht wahr? Dabei habe ich mich für so ungeheuer schlau gehalten. Aber er hat das alles nie ernst gemeint. Und dann werde ich wütend auf mich selbst, denn bestimmt … « Sie machte sich

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