Rühr nicht an mein dunkles Herz (German Edition)
Linie ihres Nackens zur Geltung kam. »Das Schlimmste habe ich dir noch gar nicht erzählt.«
Er legte ihr die Hand auf die Schulter, um sie zu sich zurückzudrehen. Als er in ihr Gesicht herabblickte, in diese traurigen, schräg stehenden Augen, empfand auch er Schmerz. »Dann sag es mir.«
Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. »Ich habe sie ihm gegeben. Ich habe ihm die Tränen gegeben.«
»Selbstverständlich! Was hättest du sonst tun sollen?«
Unbehaglich entwand sie sich seinem Griff. »Verstehst du nicht? Er kommt ungeschoren davon. Sein Ruf wird keinen Schaden nehmen. Vermutlich sollte ich dankbar dafür sein. Das wird das Leben meiner Schwestern viel einfacher machen.« In ihren Augen standen Tränen. »Aber er muss sich nicht vor Gericht verantworten – es wird also keine Gerechtigkeit geben. Keine!«
»Lydia, du hattest keine Wahl.«
»Und ob ich eine hatte! Ich behaupte von mir, eine prinzipientreue Frau zu sein? Ich hätte sie selbst zurückgeben können.« Sie zog eine Grimasse. »Soll er doch einmal sehen, wie es sich anfühlt, verraten zu werden.«
»Nein«, widersprach er. »Ich kenne dich. Du kannst ihn nicht ans Messer liefern – egal wie gerecht es dir momentan erscheint.«
»Du bist doch derjenige, der ständig gegen Scheinheiligkeit wettert.« Sie lachte geknickt. »Das war meine Chance, es besser zu machen. Wie kannst du mich je wieder mit Respekt ansehen?«
»Problemlos. Hast du auch nur ein Wort von dem gehört, was ich dir gesagt habe? Über die Liebe und all das?«
Ihre Miene wurde kühl. »Aber vielleicht ist Liebe das Vertrauen nicht wert. Sieh dir nur die Beziehung meiner Schwester an. Sie verdirbt wie Milch.«
»Unsere nicht.«
»Wie kannst du das wissen?«
»Wegen dir«, antwortete er. »Denn wenn du an etwas glaubst, kämpfst du dafür. Du kämpfst um jeden Preis.«
»Und habe mich damit zum Hampelmann gemacht«, murmelte sie.
Er musterte sie frustriert. Ihm gingen langsam die Argumente aus. Sie steckte tief in einer Depression, so viel war klar. »Ich weiß, du siehst im Moment alles schwarz, aber der Schmerz wird nachlassen.«
»Es frisst mich auf«, flüsterte sie.
»Aber nicht für immer, Lyd. Irgendwann wirst du die Kraft in dir finden, ihm zu vergeben und ihn für das zu lieben, was er einmal für dich war. Du wirst wieder sehen, was er für dich getan hat, selbst wenn du verabscheust, was er anderen angetan hat. Und ich werde die ganze Zeit bei dir sein. Ich helfe dir dabei.«
Den Blick, den sie ihm zuwarf, vermochte er nicht zu deuten. »Ich hätte nie gedacht, so etwas aus deinem Munde zu hören«, sagte sie. »Von dir, der sein ganzes Leben zu einer Fehde gegen Moreland gemacht hat.«
»Das war falsch von mir«, sagte er langsam. Das sonderbare Lächeln, das sie ihm als Antwort schenkte, machte ihn sehr beklommen. Er wusste nicht, wie er sie überzeugen sollte. Es stimmte, seine Beteuerungen passten nicht zu seinem Verhalten in der Vergangenheit, aber …
Ihm ging ein Licht auf. Er lachte leise. Sie hatte ihn mit seinen eigenen Waffen geschlagen. Kein Wunder, dass sie kein Vertrauen zu ihm haben konnte. »Du hältst mich für einen schrecklichen Heuchler, nicht wahr?«
»Nein«, sagte sie, doch ihr Dementi klang wenig überzeugend.
Er fasste einen Entschluss. »Ich muss noch ein paar Dinge regeln.« Ihr erschrockener Blick brachte ihn zum Grinsen. »Aber diese Unterhaltung ist noch nicht zu Ende. Ich spreche morgen bei euch vor.«
»Mein Vater wird zu Hause sein«, sagte sie niedergeschlagen, wandte sich ab und widmete sich wieder ihrer Reisetasche.
Es war das Schwerste, was James je hatte tun müssen. Aber er tat es für sie. Es war das Einzige, was er ihr geben konnte, was sie von ihm noch nicht besaß.
Sein Vater saß in seinem Arbeitszimmer hinter dem großen Schreibtisch. Zitronenwachs und Tinte – jene eigentümliche Mischung aus Gerüchen beschwor in James so viele, ausnahmslos dunkle Assoziationen herauf. Als Kind war er nur hierher beordert worden, um bestraft zu werden. Klatschende Schläge mit dem Rohrstock oder mit der flachen Hand. Geringfügige Verstöße, dachte James, die kleinsten Kleinigkeiten hatten ihm eine Tracht Prügel eingebracht. Eine zerbrochene Vase, die er beim Fangenspielen umgestoßen hatte. Ein Fleck auf seinem Anzug. Wenn er sich abends weigerte, seinen Teller leer zu essen.
Stella hatte da mehr Glück gehabt. Sie hatte sich entgegen Morelands Anweisungen hineingeschlichen, um ihn zu necken und zu
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