Rühr nicht an mein dunkles Herz (German Edition)
sie sich ausbreiteten, riefen sie ihr unaussprechliche Orte ins Bewusstsein. Sie öffnete ihren Mund dafür; sie staunte darüber; sie durfte das tun, nur dieses eine Mal. Was für eine sonderbare, erstaunliche Sache das war, die sein Mund sie lehrte! Ein richtiger Kuss. Und zwar ein erstklassiger. Ach, sie hatte ja keine Ahnung gehabt!
Plötzlich hörte er auf. Seine Brust hob und senkte sich in einem heftigen, schnellen Rhythmus. Sein Gesicht hatte einen eigenartigen Ausdruck. »Gut gemacht«, lobte er sie, als hätte sie beim Kartenspielen einen Stich gemacht. »Überhaupt nicht unbedarft. Und sogar mit Zunge!«
Und sogar mit Zunge! Welche Macht in diesen vier kleinen Worten lag. Ihr Klang durchströmte sie, so überwältigend wie seine Berührung.
Seine Augen verengten sich. Er griff nach ihr. Er wollte sie noch einmal küssen.
Aber … sie hatte keine Entschuldigung mehr.
Sie entzog sich ihm ruckartig. Einen langen Moment starrten sie sich an. Ach, er war wunderschön – sein schmales, kantiges Gesicht, so ausgeprägte Wangenknochen und Kiefer. Er hätte für Ikonen Modell stehen können, hätte er im Byzantinischen Reich gelebt. Silber für seine Regenbogenhaut, Topas für sein Haar. Sie war berauscht von seinem Gesicht. Er war …
Er war ein flatterhafter, glänzender Schmetterling, voll oberflächlicher Reize. So vertrauenswürdig wie eine Schlange. Und sein Charme war wie eine Salbe. Sie würde darauf ausrutschen und in ihr Verderben stürzen, wenn sie nicht unverzüglich von ihm wegtrat.
Sie zog sich einen Schritt zurück. Der Raum als Ganzes, die alltäglichen Einrichtungsgegenstände drangen wieder in ihr Bewusstsein. Dass die Welt unverändert aussah, erfüllte sie mit einer eigenartigen Verwirrung. Allein der Gedanke, dass sie vorher nur mit dieser kläglichen Erinnerung an Georges Kuss ins Grab gesunken wäre … »Sie schicken mir die Stele zu?« Ihre Stimme klang atemlos, wie bei einer Debütantin mit ihrem ersten ernsthaften Verehrer. Ihr war schwindlig. Sie war überwältigt.
»Äh.« Er blinzelte. »Ja.«
Erst als sie sich widerwillig zum Gehen wandte, bemerkte sie, dass er die Arme erneut rechts und links von ihr gegen die Wand gestemmt hatte und sie wieder gegen das Bücherregal drückte. Ihm schien diese Position zu gefallen, weil sie sie jeder Bewegungsfreiheit beraubte. Sie legte die Hand auf seinen Unterarm. Einen langen Moment stand sie da, betrachtete ihre Finger auf seinem Ärmel und spürte die Wärme seiner Haut unter dem Stoff – bis ihr klar wurde, was sie eigentlich zurückhielt: Sie fühlte sich geschmeichelt. Oh, lieber Gott. Es gab doch wohl genügend andere Dinge, auf die sie stolz sein konnte!
Sie holte tief Luft und duckte sich unter seinen Armen weg, konnte es sich jedoch nicht verkneifen, an der Tür noch einen kurzen Blick zurückzuwerfen. Er hatte noch immer diese eigenartige Haltung inne, als würde das Bücherregal nur von ihm gestützt. Er sah verwundert drein.
Das beruhigte sie. Wie oft schon hatte sie ähnliche Mienen bei den Kollegen ihres Vaters oder anderen Männern im Publikum gesehen, wenn sie Vorträge hielt? Männer werden dazu erzogen, Frauen in jeder Hinsicht zu unterschätzen, Lydia. Papa hatte recht: Sie wussten nie, wie sie reagieren sollten, wenn man ihre Erwartungen übertraf. Sein Interesse schmeichelte ihr nun doch nicht mehr. Sie war nur froh, ihn verunsichert zu haben, und natürlich darüber, dass sie jetzt wusste, wie man richtig küsste.
Da sie sich jetzt besser fühlte, nahm sie sich einen Moment Zeit, um ihre Handschuhe glattzustreichen. Als sie wieder aufblickte, beobachtete er sie. Seine Verwirrung war verschwunden, an ihre Stelle war ein süffisantes Lächeln getreten. »Alles wieder gerade gerückt?«, fragte er.
»Ich denke schon.«
»Es wäre nicht schicklich, sich nicht möglichst akkurat in der Öffentlichkeit zu zeigen«, sagte er ernst.
»Ganz meine Meinung. Viscount, beim Dinner neulich habe ich Ihnen gesagt, dass ich nicht über genügend Informationen verfüge, um Sie einzuordnen.«
Er zog eine Augenbraue nach oben. »Und?«
Sie nickte. »Ich glaube, ich habe sie jetzt gesammelt. Sie leiden an einem akuten Fall von durch Langeweile hervorgerufener Paranoia. Niemand ist darauf aus, Sie zu hintergehen oder zu betrügen. Und was Ihre groteske Idee betrifft, dass Lord Moreland irgendwie in diese Verwechslung verwickelt war – nun, ich nehme an, er hat Wichtigeres zu tun, als sich mit Damen zu verschwören, um seinem
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