Rühr nicht an mein dunkles Herz (German Edition)
Leben, und das war kein Ende, das ihr zusagte.
Fünf Etagen höher endete die Treppe vor einer kleinen Tür. Als sie anklopfte, schob Sanburne ganz beiläufig die Hand in seine Jacke. Sie hoffte nur, dass er die Frau nicht erschoss, bevor sie überhaupt mit ihr sprechen konnten.
Von drinnen erklang eine energische Stimme. »Wer ist da?«
»Miss Boyce«, rief Lydia.
Die Tür öffnete sich einen Spalt, und zum Vorschein kam eine dralle Frau mittleren Alters in einem abgetragenen, grauen Kleid. Unter ihren Augen lagen Schatten der Erschöpfung, und der fahle Schimmer ihres Teints bildete einen ungesunden Kontrast zu ihren karminrot gefärbten Haaren. »Was wollen Sie?«, fragte sie verwundert. Als sie Lydia von Kopf bis Fuß musterte, versteifte sie sich. »Wenn Sie von der Kirche kommen, können Sie gleich wieder gehen. Wir wollen hier keine Almosen.«
»Nein«, sagte Lydia hastig, »damit haben wir nichts zu tun. Sind Sie Mrs Marshall?«
Die Frau zog die Augenbrauen hoch. »Miss Marshall ist meine Schwester. Sie ist nicht hier, also müssen Sie sich Ihr Geld woanders suchen.« Sie machte Anstalten, ihnen die Tür vor der Nase zuzuknallen.
Um sie davon abzuhalten, trat Lydia einen Schritt vor. »Verzeihung, Madam, wir wollen kein Geld. Ein junger Mann hat mir eine höchst mysteriöse Mitteilung überbracht, die angeblich von Ihrer Schwester stammt. Darin stand, dass ich hierherkommen soll.«
Ein angeekelter Ausdruck huschte über das Gesicht der Frau. »Natürlich! Sie hält meine Wohnung für eine Art Zoo. Sie sind schon der vierte Besucher, der vorbeikommt, um sie anzuglotzen. Nun, wenigstens sind Sie eine Frau. Das ist immerhin ein Fortschritt.«
Sanburne gab ein ersticktes Lachen von sich. Lydia unterdrückte das dringende Bedürfnis, ihm den Ellbogen in die Rippen zu stoßen. »Wir wollen Sie nicht weiter stören, aber wenn Sie irgendeine Ahnung haben, wo sie sein könnte … «
»Nein, aber Sie kommen sowieso einen Tag zu spät. Ich habe sie gestern Abend rausgeworfen. Die wird sich hier nicht mehr blicken lassen.« Ihre Miene verdüsterte sich. »Ich wollte es ja gar nicht. Aber sie hat mir keine Wahl gelassen, so, wie die sich aufführt.« Sie verfiel in Schweigen, schien jedoch von dem Wunsch Abstand genommen zu haben, ihnen die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Neugierig musterte sie Lydia. »Kann mir nicht vorstellen, was sie von Ihnen will. Sind Sie auch ganz sicher nicht von der Kirche?«
Jetzt lachte Sanburne ungeniert, was die Frau auf ihn aufmerksam machte; sie reckte den Kopf um die Tür, um ihn eingehend zu mustern. Als ihr seine Ringe auffielen, gab sie einen überraschten Laut von sich. »Und was hat Polly mit Ihnen zu schaffen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Lydia. »Anscheinend kannte sie einen Geschäftspartner meines Vaters, einen Mr Hartnett.«
»Ach, den kannte sie, möchte ich behaupten.«
»Vielleicht möchten Sie uns das näher erläutern«, schlug Sanburne mit einem charmanten Lächeln vor. »Aber vom Treppenhaus aus hat man nicht annähernd einen so schönen Blick wie aus Ihrer Wohnung, Mrs … «
Die Frau schnaubte verächtlich. »Mrs Ogilvie, und die Wohnung macht mehr Ärger, als sie wert ist: sieben Pfund im Monat für weniger Platz als in einem Mauseloch. Die können Sie gerne haben.«
Sanburne zog einen Geldschein hervor. Lydia schnappte beschämt nach Luft. Mrs Ogilvie betrachtete den Schein finster, als hätte er ihr ein Stück glühende Kohle angeboten. »Ich will Ihr Geld nicht«, wehrte sie ab. »Ich bin nicht wie meine Schwester.«
»Sehen Sie es als faire Gegenleistung an«, schlug Sanburne vor. »Wir sind sehr verwundert darüber, warum Ihre Schwester Kontakt zu Miss Boyce aufnimmt. Wie sie schon sagte, war ihr Vater mit Mr Hartnett bekannt, aber wir verstehen seine Verbindung zu Ihrer Schwester nicht.«
»Nun. Was sie von Ihnen wollte, kann ich nicht sagen, aber ich weiß so einiges darüber, was sie von ihm bekommen hat.« Mrs Ogilvie blickte wieder auf den Geldschein. »Und sie hat mir wirklich die Haare vom Kopf gefressen.«
Lydia spähte an ihr vorbei in den kleinen, dunklen Raum. Er hatte eine Dachschräge, sodass an beiden Enden des Zimmers kaum genug Platz war, um sich hinzuhocken. Doch die Wohnung war sauber und ihre Bewohnerin um einen hellen, freundlichen Eindruck bemüht. Über ein Tischchen am Herd war ein Chintzlaken drapiert, ein weiteres lag über der Pritsche, die unter die Dachschräge geschoben war. Auf der Fensterbank stand ein Farn, der
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