Rühr nicht an mein dunkles Herz (German Edition)
das bisschen Sonne in sich aufsog, das er abbekam. Und die Wände waren mit gerahmten Drucken geschmückt, von denen einige Berufsschönheiten zeigten. Kurzentschlossen sagte sie: »Ach, Sie haben ja ein Bild von Mrs Chudderley! Viscount, sehen Sie nur – sie hat ein Bild von Elizabeth an der Wand! Der Viscount ist sehr gut mit ihr befreundet«, teilte sie der Matrone in vertraulichem Ton mit.
»Viscount, sagen Sie?« Jetzt schwang die Tür ganz auf. »Ta-da! Was denkt sich Polly nur dabei, ihre Nase in Ihre Angelegenheiten zu stecken? Jetzt erzählen Sie mir nicht, dass sie Sie verärgert hat.«
»Durchaus nicht«, beteuerte Sanburne.
»Nun denn. Ich nehme an, Sie können es verschmerzen.« Sie nahm das Geld an sich. »Stolz macht sich nicht bezahlt, heißt es doch. Auch wenn es für Sie vielleicht ein schlechter Handel ist, denn die Geschichte ist recht einfach. Kommen Sie rein, aber der Tee ist alle und ich hab nur den einen Stuhl.«
In der Wohnung kämpfte Lydia gegen die Versuchung an, auf dem einzigen Stuhl Platz zu nehmen, doch Mrs Ogilvie bestand darauf, dass sie sich setzte, und räumte zu dem Zwecke eine Zeitung und eine hervorragende Zeichnung weg. Lydia äußerte sich wohlwollend darüber.
»Das hat meine Jüngste gemalt«, sagte die Frau stolz und reichte ihr das Bild, damit sie es sich besser ansehen konnte. »Ein ziemliches Händchen fürs Zeichnen. Und sie himmelt ihre Tante Polly an. Das da drauf ist Polly.«
Lächelnde Augen und ein belustigter Zug um die Mundwinkel. »Sie ist sehr hübsch«, sagte Lydia und war unerklärlicherweise ungehalten darüber.
Mrs Ogilvie zuckte gleichgültig mit den Achseln. »Großkotzig ist sie. Gott sei’s geklagt – und Mary blickt deshalb auch noch zu ihr auf. Bereitet mir Sorge. Helles Köpfchen, meine Mary, aber mit demselben Talent wie ihre Tante, in Schwierigkeiten zu geraten.« Sie wedelte mit Sanburnes Geldschein. »Das behalt ich nicht für mich. Das kriegt Mary, und zwar alles. Aber jetzt zu meiner Schwester. Ich weiß nicht so recht, was ich Ihnen erzählen soll. Sie hat sich mir eigentlich nie anvertraut.«
Lydia wartete auf eine Reaktion von Sanburne, der sich jedoch damit zufriedenzugeben schien, sie reden zu lassen. Sie räusperte sich und bewegte sich zögernd auf gefährliches Terrain zu. »Sie kannten Mr Hartnetts Namen. Hat Miss Marshall … ihm nahegestanden?«
Mrs Ogilvie verzog ironisch die Mundwinkel. »Na, so kann man es auch nennen. Sprechen wir offen und ehrlich, oder müssen Frauen wie Sie wegen solcher Sachen immer erst einen Heidentanz aufführen?«
»Offen und ehrlich«, sagte Sanburne und zwinkerte Lydia zu. »Miss Boyce tanzt nicht gerne.«
Mrs Ogilvie sah sie an, als wollte sie ihre Entscheidung, sie reinzulassen, noch einmal überdenken. »Ein Jammer. Aber warum denn bloß?«
Lydia lief rot an. »Ähm … «
»Sie glaubt, sie kann es nicht gut«, erklärte Sanburne.
»Das habe ich nie gesagt«, schoss sie zurück, obwohl er natürlich recht hatte.
»Ach, Mädel! Da könnte ich mir aber schlechtere Partner vorstellen«, sagte Mrs Ogilvie mit einem kurzen, aber umfassenden Blick auf Sanburnes Figur. »Feier fröhlich im Mai, sage ich immer. Der Dezember kommt früh genug. Aber nehmen wir kein Blatt vor den Mund. Polly hat sich von Hartnett aushalten lassen.« Sie zuckte abgeklärt mit den Achseln. »An die elf Jahre lang. Haben schon vor dem Tod seiner Frau was miteinander angefangen und ihr Verhältnis danach weitergeführt. Er hat ihr eine Wohnung in St. John’s Wood eingerichtet – so gut wie verheiratet, hat sie immer gesagt; wozu ist schon ein Ring gut? Aber als er starb, steckte sie in der Klemme. Nicht mal ein Penny für sie im Testament. Dazu ist ein Ring gut, sage ich. Schon nach zwei Tagen hat der Hauswirt sie dann vor die Tür gesetzt. Ich hab sie bei mir aufgenommen, ihr was zu essen und einen Schlafplatz gegeben. Aber als plötzlich diese Kerle vorbeikamen und sie belästigten, war das Maß voll. Ein scheußliches Pack war das. Eine Bande aus Betrügern und Dieben. Ich muss schließlich an Mary denken. Und gegen Reggie hatte sie auch plötzlich was. Das hat gestern Abend Probleme zwischen uns gegeben. Das kann ich natürlich nicht dulden, auch wenn sie meine Schwester ist.«
Lydia hatte sich auf ein einziges Wort fixiert. Im Vergleich dazu trat alles andere in den Hintergrund. »Diebe«, wiederholte sie leise. Konnten Miss Marshall und ihre Freunde sich Zugang zu dem Transport verschafft haben? Und wenn
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