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Rühr nicht an mein dunkles Herz (German Edition)

Rühr nicht an mein dunkles Herz (German Edition)

Titel: Rühr nicht an mein dunkles Herz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meredith Duran
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Wolken gedämpft, und es wehte ein laues Lüftchen. Hier oben, wo ihr nichts anderes übrig blieb, als zu warten, könnte sie vielleicht aufhören – nur einen kurzen Augenblick – , sich ständig Sorgen zu machen.
    Seine Hand lag noch auf ihrer Brust, doch seine Finger hielten jetzt still. Die anfangs so erregende Berührung fühlte sich nun tröstlich an. Als beruhigte er sie damit. In ihren Gliedern breitete sich ein wohliges Gefühl aus. Sie ließ den Kopf an seine Schulter sinken. »Was meinen Sie?«, fragte er. »Wovor haben Sie Angst?«
    Darauf konnte sie nicht antworten. Sie wollte nicht mehr reden. Es war friedlich hier oben, im späten Frühlingslicht. Plötzlich wurde ihr die Ironie des Ganzen bewusst. »Nicht so wichtig.«
    Minuten verstrichen. Ihr kam eine Frage in den Sinn. »Woher stammten die Blutergüsse, die Sie an jenem Abend bei den Stromonds im Gesicht hatten?«
    Seine Finger zogen sich kurz zusammen – ein Reflex, dachte sie, die Frage hatte ihn überrascht. »Hätten Sie mich das auf festem Untergrund gefragt, hätte ich zweifellos geantwortet, dass Tollpatschigkeit bei uns in der Familie liegt. Dass wir stets irgendwelche Treppen hochfallen, über Bordsteine stolpern und gegen Türgriffe laufen.« Er verstummte. »Doch in Wahrheit boxe ich. Sogar ganz hier in der Nähe.«
    »Das muss wehtun.«
    »Ja«, sagte er. »Das ist Sinn und Zweck des Ganzen.«
    Er sprach nicht nur vom Boxen. Das verstand sie. »Sie treiben alles bis zum Äußersten«, sagte sie. »In jeder Beziehung. Sie sind der unkonventionellste Gentleman, den ich je getroffen habe.«
    »Ein Gentleman? Ich dachte, ich wäre ein Flegel.«
    »Sie sollten nicht zu stolz darauf sein.«
    »Das bin ich gar nicht«, sagte er leise. »Aber ich muss so tun, als ob. Vor allem Sie sollten das wissen. Ich muss eine Rolle spielen, genau wie Sie.«
    Allerdings. Er hatte recht. Sie sollte nicht hier sitzen und seine Berührung tröstlich finden. Die angemessene Reaktion wäre Wut, Empörung und später vielleicht Selbstvorwürfe, weil sie sich überhaupt in diese Situation begeben hatte. »Es ist sehr anstrengend«, flüsterte sie.
    »Ungemein.« Und dann, nach einer Weile: »Warum haben Sie Angst, Lydia?«
    Seltsam, ihren Namen aus seinem Munde zu hören und festzustellen, dass sie keinerlei Bedürfnis verspürte, dagegen zu protestieren. Wie konnte sie auch? Sein Körper hatte sich angespannt, als er von den Schmerzen gesprochen hatte. Und selbst, wenn sie es nicht ganz verstand, wusste sie doch, dass er ihr ein Stückchen Wahrheit geschenkt hatte, was ihm ganz offenbar schwergefallen war.
    Es wäre schön gewesen, ihn dafür mit einer eigenen Wahrheit zu belohnen. Doch was konnte sie ihm schon sagen? Ihre Sorgen waren prosaisch. Jede unverheiratete Frau fortgeschrittenen Alters teilte sie. Ihre wissenschaftlichen Artikel brachten ihr nur einen Hungerlohn ein. Papa erübrigte ihr so viel Geld, wie er konnte, doch den Großteil seiner Gewinne steckte er wieder in sein Projekt. Er würde ihr nach seinem Tod kein Vermögen hinterlassen. Was würde dann aus ihr? Mein zukünftiges Leben, dachte sie düster: als arme Verwandte, unerwünschte finanzielle Bürde, ein Gesicht, das bei Abendgesellschaften sehnsüchtig durchs Treppengeländer lugte, während die reizenden Gäste unten tanzten und lachten. Unverheiratete Tante von Anas zukünftigem Nachwuchs. Oder noch schlimmer, für den von Sophie und George. Wäre das nicht großartig? Kindermädchen und Gouvernante in einem, ausgehalten durch die widerwillige Großzügigkeit des Mannes, den sie einst zu lieben geglaubt hatte. Unbezahltes Dienstmädchen in dem Haus, das sie einmal ihr Eigen nennen wollte.
    Natürlich machte sie sich Sorgen. Wer an ihrer Stelle würde das nicht?
    Doch die Vorstellung, derartige Gedanken zu äußern, stieß sie ab. Das würde nur dazu dienen, sie als ein weiteres Beispiel jener bedauernswerten Spezies einzuordnen: die der gebildeten, aber mittellosen alten Jungfer. Alles in ihr schreckte vor der Vorstellung zurück, sich als so typisch zu betrachten. Ich bin eitel, dachte sie. Aber sie konnte nicht anders. Als Kind war sie wie betört vom Staunen über die Welt, gespeist von Papas Ermutigung ihrer Lernfreude, und hatte sich ein besonderes Leben erträumt. Gelobt und geliebt zu werden, respektiert und bewundert. Doch die Welt hatte wenig Verwendung für eine Frau, die nichts als einen scharfen Verstand vorzuweisen hatte. Wenn die Leute sie jetzt beachteten, dann nicht

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