Rütlischwur
sie, stand auf und begrüßte beide mit einem Kuss auf die Wange.
Nachdem sie sich gesetzt hatten, brachte ein weiß livrierter älterer Mann drei Kristallgläser und eine Flasche Château Margaux. Judith probierte den Wein und nickte. Wortlos schenkte der Kellner ein und entfernte sich wieder.
Eschenbach hatte einen Blick auf das Etikett geworfen. Diesmal war es kein 81er, sondern ein 85er. Umso besser, dachte der Kommissar. Denn 1985 war im Bordeaux ein Jahrhundertwein in die Fässer eingegangen.
Sie prosteten sich zu.
»Im Vergleich zu den anderen Vierwaldstätter-See-Dampfschiffen aus der Zeit des Fin de Siècle wurde die Schiller über die Zeit nur wenig verändert«, erklärte Judith. »Ernest hat mir das immer wieder erzählt. Mit seinen Freunden vom Verein der Dampferfreunde hatte er dieses Schiff Ende der neunziger Jahre renovieren lassen. Dabei war ihm wichtig, dass die alten Dinge so belassen wurden, wie sie sind.«
»Deshalb also diese Sonderfahrt«, sagte John.
Judith nickte und warf einen Blick auf die Urne, die neben ihr auf dem Boden stand. »Er hat sich gewünscht, dass wir ihn zusammen auf seiner letzten Reise begleiten.«
»Aufs Rütli, nehme ich an«, folgerte Eschenbach.
»Ja, auf seine Wiese.« Und mit einem Lächeln fügte sie hinzu: »Keine Angst, Herr Kommissar, wir werden dort nichts anrühren. Nicht einen Spatenstich werden wir tun. Der Wind wird seine Asche davontragen … Und wenn der nächste Regen kommt, wird nichts mehr davon übrig sein.«
»Außer vielleicht ein paar Krokusse mehr im nächsten Frühling«, bemerkte John. Es war dem Bruder anzusehen, dass er am geplanten Vorhaben Gefallen fand.
Nachdem Judith ihr Glas leer getrunken hatte, zog sie einen Briefumschlag aus ihrer Handtasche und sagte zu John: »Wenn du mich und den Kommissar einen Moment entschuldigen würdest …«
»Aber sicher doch.« John warf einen Blick zur Weinflasche.
Seite an Seite gingen Eschenbach und Judith durch den Salon zum Ausgang. Er musterte sie von der Seite und versuchte Anne-Christine in ihrem Gesicht zu entdecken. Was Anne-Christine wohl in Billadier gesehen hatte? Sie folgten der Treppe hinunter aufs Vorderdeck und traten ins Freie.
Ein heftiger Wind heulte ihnen entgegen. Einen Moment schien es, als verlöre Judith das Gleichgewicht.
Der Kommissar fasste sie an der Schulter.
»Ich mag dieses Wetter. Es erinnert mich an meine Jugend in Irland.« Judith stemmte sich gegen die Böen. »Gegenwind macht einen aufrechten Gang. Das hat Ernest immer gesagt, wenn’s mal ein bisschen schwieriger wurde.«
Auf halbem Weg zur Bugspitze blieben sie stehen. Eschenbachs Blick schweifte über die Reling. An den Ufern, in den Häfen von Beckenried, Gersau und Brunnen, blinkten die Sturmwarnlichter. Der See war dunkel geworden, beinahe schwarz, und die sich überschlagenden Wellen trugen helle Schaumkronen auf ihren Häuptern. In einiger Entfernung machte der Kommissar ein paar verwegene Segler aus, die mit ihren Booten über die Wellen flogen.
Judith sah auf die Uhr. »Noch eine halbe Stunde, dann sind wir dort.« Sie erhob ihre Stimme, um gegen den Lärm des Windes und der schlagenden Wellen anzukommen. »Ich wollte die Zeit nutzen, um Schulden zu begleichen …« Sie überreichte Eschenbach das kleine Kuvert.
»Sie schulden mir gar nichts.«
»Ich spreche von der Banque Duprey«, sagte sie und hielt sich an ihm fest. »Sie haben einen Vertrag mit der Bank. Ich hoffe, Sie erinnern sich.«
»Ja, schon.« Der Kommissar drehte den Umschlag und betrachtete ihn.
»Wollen Sie ihn nicht öffnen?«
»Nicht hier draußen«, sagte er. »Zudem habe ich meine Brille nicht dabei … sagen Sie mir, was drinsteht.«
»Ihr Honorar, Eschenbach. Ein Scheck über eine Million Schweizer Franken.«
Der Kommissar zögerte.
»Tun Sie nicht so, als könnten Sie’s nicht brauchen. Und lügen Sie mich nicht an … Sie besitzen überhaupt keine Brille.«
Was gab es da zu sagen? Eschenbach steckte das Kuvert in seine Jackentasche. Schwankend überquerten sie das Deck, zwischen den roten Sitzbänken hindurch bis ganz nach vorne. »Die Bank gehört jetzt Ihnen, nicht wahr?«
»Ich hab das nicht gewusst, ehrlich.« Judith verzog den Mund. »Ernests Anwälte haben’s mir gesagt, gestern.«
Eschenbach sah Judith an. Ihre pechschwarzen Haare waren zerzaust, ihr Blick hielt dem seinen stand. Der Kommissar erinnerte sich an ihre erste, flüchtige Begegnung bei Duprey und an den Moment im Kloster, als sie sich
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