Rütlischwur
Sterben des Obersten dargestellt und diskutiert. Aargauer Zeitung , Blick , Tages Anzeiger , NZZ – Eschenbach ging sämtliche Berichte durch und fand nichts, was ihm unbekannt gewesen wäre. Im Gegenteil: Einiges fehlte. So zum Beispiel war kein einziger Journalist darauf gestoßen, dass die Banque Duprey seit Jahren von einer Beteiligungsgesellschaft des Obersten kontrolliert wurde. Und zwar zu hundert Prozent. Und hinter Billadiers Liaison mit Anne-Christine Banz, geborene Duprey, war auch niemand gekommen. Mit wenigen Ausnahmen hatte man Archivberichte aufgewärmt wie eine alte Suppe. Dazu kamen die üblichen Statements aus Militär, Wirtschaft und Politik, die das Ganze keinesfalls besser machten.
Die politische Rechte hob den Milliardär, Exmilitär und großen Landesverteidiger auf den Sockel eines Freiheitskämpfers, die Linke versenkte ihn ins Grab der ewig Gestrigen. Dazwischen gab es wenig Differenziertes, fand der Kommissar.
Das alte Lied, das alte Leid.
Als endlich von Matt auftauchte, winkte Eschenbach ihn zu sich an den Tisch.
»Lass mich raten, Walter. Jemand ist zu mir in die Wohnung, hat die Waffe auf den Tisch gelegt und ist wieder gegangen. End of story .«
Von Matt, mit einer halben Brioche im Mund, die er sich von Eschenbachs Teller geklaut hatte, nickte. Und als er den Bissen heruntergeschluckt hatte, sagte er: »Und zwar mit einem Schlüssel … denn wir konnten nirgends auch nur einen Kratzer finden. Das ist alles, was ich jetzt schon mit Sicherheit sagen kann.«
Die nächsten beiden Tage verliefen exakt so, wie Eschenbach es vorausgesehen hatte. Der technische Dienst der Zürcher Polizeibehörde identifizierte die gefundene Pistole als Tatwaffe. Ebenso stimmten die Fingerabdrücke, die man darauf fand, exakt mit jenen von Oberst Billadier überein: Der Dirigent hatte vorzeitig sein Pult verlassen, und das Orchester spielte den letzten Satz artig durch, bis zum Schluss.
Der Umstand, dass die Waffe erst nach Billadiers Tod gefunden wurde, gab der Geschichte den Anstrich sorgfältig durchgeführter Ermittlungen. Alles fügte sich zu einem stimmigen Ganzen zusammen, in dessen vermeintlicher Klarheit sich jeder Zweifel verflüchtigen musste.
Aus einem vorsichtigen »So hätte es gewesen sein können« wurde wie selbstverständlich ein »So muss es gewesen sein«.
Und am Ende war die einhellige Meinung aller involvierten Parteien (die zuständige Untersuchungsrichterin eingeschlossen), dass es so auch gewesen war.
Im Laufe dieser achtundvierzig Stunden, bis zur endgültigen Freilassung Judith Bills, fragte sich der Kommissar nicht nur ein Mal, was wohl passiert wäre, wenn er Billadiers Walther PPK einfach in die Limmat geworfen hätte. Was hatte der Oberst für diesen Fall vorgesehen? Oder gab es tatsächlich, wie er vermutete, keinen Plan B?
Nach dem Gespräch mit von Matt im Sprüngli ging Eschenbach zurück in seine Wohnung. Von dort aus rief er Corina an, konnte sie aber nicht erreichen. Er hinterließ ihr eine Nachricht auf Band, dass er sie am Flughafen abholen würde – »Und bitte gib mir noch das genaue Datum an und die Uhrzeit.« Dass sie ihm fehle, das murmelte der Kommissar ganz zum Schluss auch noch auf die Combox. Danach ging er in den Keller, holte seine Reisetasche und verließ das Haus. Bei der Fraumünsterpost, auf einem Feld für Kurzparkierer, fand er seinen Volvo. Eschenbach hatte ihn am Vorabend dort hingestellt, nun war er froh, dass man den Wagen noch nicht abgeschleppt hatte.
Vierzig Minuten später erreichte der Kommissar das Kloster in Einsiedeln. Der Ort war ihm vertraut geworden. Er begrüßte den Pförtner, trat durch die schwere Holztür ins Innere des Gebäudes und fand ohne Mühe den langen Weg durch die Gänge bis zur Bibliothek. Bruder John konnte er nirgends entdecken. Das Büro war leer. Eschenbach setzte sich an den großen Tisch und schrieb eine Notiz.
Lieber John –
ich danke Ihnen von Herzen für Ihre Gastfreundschaft. Ihnen und Ihren Brüdern! Es waren seltsame Umstände, die mich zu Ihnen gebracht haben. Aber solche Umstände gibt es nun einmal.
In einem unserer Gespräche haben wir uns darüber unterhalten, warum Menschen zu Ihnen ins Kloster kommen. Freiwillig. Was suchen sie – was fehlt ihnen? Es ist ja nicht mehr so wie früher, dass man diese Leute verfolgt und sie deshalb bei Ihnen Schutz suchen.
Heute ist das Gegenteil der Fall, haben Sie gesagt. Die Menschen sind eingespannt und durchorganisiert. Sie rennen von Sitzung
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