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Rütlischwur

Rütlischwur

Titel: Rütlischwur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
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den Wert aller Karten zusammenzählt, dann kommt man auf 364. Abgesehen von einer kleinen Rundungsdifferenz, sind es die Tage eines Jahres.«
    »Bei mir gibt’s auch eine Rundungsdifferenz«, sagte Eschenbach. »Ich habe gestern die Protokolle gelesen, die Antworten, die du bei den Vernehmungen gegeben hast … Da ist mir plötzlich ein Licht aufgegangen. John hat recht gehabt: Du kannst nicht lügen.«
    »Ach, wirklich?«
    »Soll ich die Sätze wiederholen? Sätze wie: Ich kann dazu nichts sagen. Oder: Es wird sich alles aufklären.«
    »Na klar, das habe ich alles gesagt.«
    »Du hast nie behauptet, dass du Jakob nicht getötet hast.«
    »Das will überhaupt nichts heißen.«
    »Nun frage ich dich aber: Hast du ihn getötet?«
    Judith schwieg.
    »Hast du dich deshalb so lange geweigert, bei Duprey einzusteigen, weil du gedacht hast, dass Banz dein Vater ist?«
    »Falsch!« Judith nahm ihre Hände von Eschenbachs Schultern und ergriff mit der Rechten ihr Medaillon. »Ich habe mich ihm nicht entzogen, es ist umgekehrt … Jakob hat sich geweigert, mein Vater zu sein. So ist es gewesen.«
    Eschenbach zögerte. »Aber das stimmt nicht«, sagte er. Und zum ersten Mal entdeckte er ein nervöses Flackern in ihren Augen. »Steig bitte von diesem Geländer.«
    »Du bist ja nicht dabei gewesen, als er über mich gelacht hat. Ein Hurenkind sei ich, hat er gesagt. Das Produkt zweier Alkoholiker … Kranke, die in einer Klinik versucht hätten, ihr Elend aus der Welt zu vögeln.«
    »Komm da runter«, rief Eschenbach energisch. Er dachte dar­an, was ihm Chester erzählt hatte. Wie sich Ernest und Anne-Christine damals in einer Klink kennengelernt hatten. Wie der Zufall (oder war es doch die Liebe?) zwei Menschen auf ihren Weg zurückgebracht hatte. Judith war ein Teil dieses Weges gewesen.
    »Dein Vater war ein wunderbarer Mensch, glaub mir.« Weil er befürchtete, sie könnte die Kontrolle verlieren, versuchte er Judith von der Reling zurück auf das Deck zu ziehen.
    Sie stieß ihn zurück.
    »Jakob war ein Schwein. Das weißt du genauso gut wie ich. Er hat Waffen an Kinder verkauft … Aber sogar das hätte ich ihm verziehen. Wenn er mich wenigstens nicht verleugnet hätte.«
    »Jakob war nicht dein Vater!« Der Satz war ihm herausgerutscht. Eschenbach merkte es, als es schon zu spät war. Er biss sich kurz auf die Lippen. Aber weshalb sollte er es ihr verheimlichen? Es war höchste Zeit, Judith endlich reinen Wein einzuschenken. Was zum Teufel hatte man damit bezweckt? »Du bist die Tochter von Ernest«, sagte der Kommissar bestimmt. »Ich kann dir das alles erklären.«
    Judith sah ihn ungläubig an. »Ist das wahr?«
    Eschenbach nickte.
    Judith schien zu überlegen. »Wenn es so ist, warum hat mir Ernest nichts gesagt?«
    »Es ist aber so.«
    »Dann schwör es!«, sagte Judith. »Schwör mir, dass du die Wahrheit sagst.«
    Eschenbach hob die Hand.
    »Also gut«, murmelte sie. Abermals schien sie nachzudenken. »Ich will dir glauben … aber nur, wenn du mir auch glaubst.«
    »Was soll ich dir glauben?«
    Judiths Augen starrten den Kommissar an. »Ich wollte Banz nicht umbringen.« Sie schluckte. »Es war Notwehr … Er hat sich auf mich gestürzt. Dann ist es einfach passiert. Ich habe mich gewehrt, mit dem hier …« Sie umfasste ihr Amulett. »Und dann war er plötzlich tot.«
    Herrgott, Judith: Es war ein Genickschuss  – dachte Eschenbach.
    Schweigend sahen sie sich an.
    »Komm von dieser Reling runter«, sagte der Kommissar. Er streckte die Arme aus.
    »Fass mich nicht an«, zischte sie. »Ich kann dir nicht trauen, wenn du mir nicht glaubst. Du glaubst mir doch, oder?«
    »Ich versuche es.«
    »Schwör’s!«
    Eschenbach zögerte.
    »Ich will nicht ins Gefängnis«, murmelte sie. »Ich will dort nicht mehr hin, verstehst du?« Judith hielt einen Moment inne, bevor sie weitersprach. »Ich habe immer gedacht, es ist nicht so schlimm … Man hat ein Zimmer, zu essen und zu trinken. Das Wichtigste wird einem gegeben – die Aufseher sind sogar freundlich, wenn man sich an die Regeln hält. Aber so ist es nicht. Das Wichtigste wird einem genommen: die Freiheit! Nur ein Wort für den, der sie hat. Wenn sie einem weggenommen wird, ist es die Hölle. Ich kann das nicht. Ich will frei sein … frei, wie die Väter waren, und eher den Tod als in der Knechtschaft leben.«
    Die letzten Worte waren aus Friedrich Schillers Wilhelm Tell : der Rütlischwur.
    »Okay«, sagte Eschenbach ruhig. Er hatte die Veränderung

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