Rütlischwur
Eschenbach kommen sah.
»Entsetzlich, nicht wahr?«
»Nein, überhaupt nicht …« Der Bündner, der zuvor in einen Bericht vertieft gewesen war, schien freudig und etwas verwirrt zugleich. Er setzte sich wieder hin, um gleich darauf erneut hochzuschnellen. »Brauchst du einen Stuhl?«
»Die komplette Akte Judith Bill«, sagte der Kommissar. »Die Fotos vom Tatort … alles, was die Spurensicherung zusammengestellt hat. Und was ganz wichtig ist: sämtliche Gesprächsprotokolle.«
Jagmetti zuckte mit den Schultern. »Bis wann brauchst du’s?«
»Jetzt«, sagte Eschenbach.
Es vergingen gut zwanzig Minuten, bis der Bündner alles zusammengetragen hatte.
Einen ruhigen Ort, um das alles zu lesen, fand Eschenbach in den neuen Büros im Werdgebäude allerdings nicht.
»Ist ja alles nur provisorisch«, bemerkte Jagmetti. »Weil wir zurück ins alte Kapo-Haus ziehen. Wenn’s fertigrenoviert ist.«
Der Kommissar war bereits am Ausgang. »Schon gut«, sagte er. »Ich bring’s gegen Abend wieder zurück.« Unten an der Pforte ließ er sich ein Taxi bestellen und fuhr zum Museum Rietberg. Ausgestattet mit einem Picknickkorb, den er sich im Café bereitstellen ließ, setzte er sich an ein schattiges Plätzchen im Park, las, aß und telefonierte.
Als er die Akten gegen halb sechs Uhr nachdenklich wieder zurück ins Büro brachte, war Jagmetti bereits weg. Ein Zettel lag auf seinem Tisch, mit dem Hinweis, wo Eschenbach die Papierberge verstauen sollte. Einen Schlüssel zum Aktenschrank hatte der Bündner ebenfalls deponiert.
Bei sich zu Hause am Briefkasten fand er eine zweite Notiz . Achtung: Wichtige Mitteilung!
In einem Kuvert steckte die Einladung zu Ernests Urnenbestattung. Jemand musste sie vorbeigebracht haben, denn das Kuvert war unfrankiert.
Wir treffen uns morgen – Mittwoch, 12. September, um 14 . 45 Uhr beim Schiffssteg Luzern.
Es war der Tag vor Corinas und Kathrins Rückkehr.
Kapitel 33
Fahrt aufs Rütli
E s war ein kurzer Weg vom Bahnhof in Luzern zum Schiffssteg.
Eschenbach schlug den Kragen seines Vestons hoch, sein Haar war vom Wind zerzaust. »Kein schönes Wetter für eine Bootsfahrt«, sagte er mit einem Blick zu John.
Der Bruder sah kurz zum Himmel. Eine Schar dichter Wolken hing wie ein dunkler Baldachin über dem Vierwaldstätter See. John biss sich auf die Unterlippe. Für einen Schritt des Kommissars brauchten seine kurzen Beine zwei. Jetzt war er aus dem Tritt gefallen. »Es ist ein großes Schiff«, meinte er. »Wir werden schon nicht untergehen.«
Die Schiller war ein prächtiger Schaufelraddampfer aus dem Jahr 1906. »Sonderfahrt« stand auf dem weißen Emailleschild beim Einstieg. Eschenbach und Bruder John betrachteten es kurz, bevor sie über den Brückensteg in den bauchigen Rumpf eintraten.
Ein junger Mann mit einer Matrosenuniform kam auf sie zu und sagte mit kernigem Innerschweizer Dialekt: »Ich bring Sie in den Jugendstilsalon. Frau Bill erwartet Sie bereits.«
Die beiden Männer folgten dem Steward. Während sie über das großzügige Mitteldeck gingen, warf Eschenbach einen Blick in den offenen Maschinenraum hinunter. Wie riesige Stelzen setzten sich die Stahlpleuel langsam in Bewegung. Der Geruch von Schweröl lag in der Luft. Er erinnerte Eschenbach an den dunklen Heizungsraum im Keller seines Elternhauses. Als Junge hatte er sich dorthin zurückgezogen, wenn er mit der Welt der Erwachsenen nicht einverstanden gewesen war.
Über eine Treppe gelangten sie auf das oberste Passagierdeck, in den Bereich der ersten Klasse, und betraten kurz darauf den besagten Salon. Ein langer grüner Teppich durchlief den lichtdurchfluteten Raum. Links und rechts an den Fensterfronten standen Tische, weiß aufgedeckt, so als erwarte man hohen Staatsbesuch oder wenigstens die Gesellschaft für eine goldene Hochzeit. Der moosfarbene Plüsch, mit dem die Sitzflächen der Stühle und Hocker überzogen waren, das helle Zitronenholz der filigranen Deckenbalken und des Bodens, die Intarsien aus Ebenholz und Perlmutt – für einen Moment fühlte sich der Kommissar zurückversetzt in die Anfangszeit des vorletzten Jahrhunderts. Einer Zeit also, in der man selbst auf Dampfschiffen nur die edelsten Materialien verwendet hatte.
In einem kleinen Erker am entfernten Ende des Raums stand die bleiche Büste Friedrich Schillers. Der Dichter schien zu lächeln, als Eschenbach und John sich dem Tisch näherten, an dem Judith auf sie wartete.
»Es ist schön, dass ihr gekommen seid«, rief
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