Rütlischwur
Haare und eine Boxernase.
Judith ließ sich nicht anmerken, dass sie jemand anderen erwartet hatte. Normalerweise hatte sie ein gutes Gefühl dafür, wer sich hinter den Spielernamen im Internet verbarg. Früher, als sie diese Veranstaltungen noch häufiger durchführte, traf sie sich vor den Sessions mit den Leuten. An einem neutralen Ort, einem Café oder auf der Straße. Ein Sicherheits-Check, der sich mit der Zeit erübrigte.
Denn die Leute, die sich für einen Pokerabend mit ihr verabredeten, waren in der Regel harmlos. Oftmals Studenten, die von ihr gehört oder gelesen hatten, sich von ihr Ratschläge erhofften und – was nicht unwichtig war – auch bereit waren, dafür tausend Franken aufzubringen. Denn das war ihr Preis für einen Poker Coaching Evening , wie sie ihre Veranstaltungen nannte.
Auch wenn ihr Ausstieg aus der Pokerszene schon eine Weile zurücklag, war sie in Spielerkreisen noch immer Kult. Das verdankte sie einer Übertragung des Fernsehsenders ESPN. Noch während ihres Studiums hatte sie als erste Frau überhaupt bei der World Series of Poker am Finaltisch des Main Event in Las Vegas gesessen. Jude the Math hatte man sie genannt, weil sie ihr Spiel an den mathematischen Gesetzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung ausrichtete.
Jude-the-math hieß auch der Blog, in dem sie Tipps gab und solche Pokerabende wie den heutigen anbot.
»Wir fahren ins Haus«, sagte der Mann. Er öffnete die Hintertür zu einer schwarzen Limousine, die am Ausgang zum Limmatquai halb auf dem Gehsteig stand.
Sie fuhren los.
Judith blickte durch getönte Fensterscheiben nach draußen. Der Wagen glitt über die Bahnhofsbrücke, fädelte beim Central in die Weinbergstrasse ein und fuhr diese hoch bis zur Sonneggstrasse. Dort bogen sie links ab und gelangten auf ein Privatgrundstück. Vor einer alten Villa hielt der Fahrer an.
»Wir sind da«, sagte er.
Judith folgte dem Mann ins Haus. Eine Holztreppe führte in den ersten Stock, wo sie am Ende eines schmalen Ganges, im schummrigen Licht eines Spielzimmers, von zwei weiteren Männern erwartet wurden. Als Judith in den Raum trat, nickten sie ihr zu.
»Meine Freunde sprechen kein Englisch«, sagte der Mann, der sie am Bahnhof abgeholt hatte. »Ich werde übersetzen, wenn nötig … Wollen spielen, nicht sprechen.«
Judith nickte. Ohne weitere Begrüßung und ohne dass sich jemand mit Namen vorgestellt hatte, setzten sie sich an den Tisch in der Mitte des Raumes.
»Texas Hold’em – no limits «, sagte der Fahrer. Dann begann er mit dem Mischen der Karten.
Als Judith zum allerersten Mal ein 52er Set französischer Spielkarten in die Hände bekommen hatte, war sie halb so alt wie jetzt gewesen. In ihrem kleinen Zimmer in der Stiftsschule in Einsiedeln hatte sie – absteigend vom Ass der jeweiligen Spielfarbe – Karte um Karte sorgsam auf ihren Schreibtisch gelegt. Eine neue Welt hatte sich ihr eröffnet. Eine Welt, die verborgen und still mit der realen Welt draußen zu korrespondieren schien. Vom ersten Augenblick an hatte sie eine seltsame Vertrautheit empfunden.
So wie es Menschen gab, die beim Erklingen von Tönen entsprechende Farben wahrnahmen, offenbarte sich in Judiths Empfindungswelt ein direkter Zusammenhang zwischen Spielkarten und Menschen. Wenn ihr jemand begegnete, stellte sich für sie ein direkter Bezug zu einer Karte her. Es war eine Art Aura, die Judith wahrnahm – ein Vorgang, den sie durch ihren Willen nicht steuern konnte.
Interessanterweise gab es Menschen, deren Spielkarten im Laufe der Zeit wechselten. Aus einer Herz-Neun konnte ein Herz-Bube werden. Selten aber gab es Menschen, die im Laufe ihrer Entwicklung auch eine andere Farbe annahmen.
Über die Jahre glaubte Judith, dass die Farben etwas mit dem Temperament der Personen zu tun hatten. Cholerische Charaktere zeigten sich in Herzbildern, unbeschwert fröhliche Menschen in Karo. Demgegenüber offenbarten sich melancholisch und phlegmatisch veranlagte Personen in den Farben Kreuz oder Pik. Was Judith anhand der Karte nicht eruieren konnte, war, ob die dazugehörige Person ein guter oder schlechter Mensch war. Auch wenn sie diesbezüglich immer wieder nach einem Anhaltspunkt suchte, es gab ihn nicht. Die Karten schienen beides in sich zu vereinen. Und wie es schien, stand es nicht in ihrer Macht, darüber ein Urteil zu fällen.
Die Männer, die an diesem Abend mit ihr am Tisch saßen, hatten in Judiths Wahrnehmung tiefe Zahlen. Nachdem sie eine Weile gespielt hatten, sah sie
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